aufgelesen [48]
Wir müssen wahre Sätze finden
»Man hat mich schon manchmal gefragt, warum ich einen Gedanken habe oder eine Vorstellung von einem utopischen Land, einer utopischen Welt, in der alles gut sein wird, in der wir alle gut sein werden. Darauf zu antworten, wenn man dauernd konfrontiert wird mit der Abscheulichkeit dieses Alltags, kann es ein Paradox sein, denn was wir haben ist nichts. Reich ist man, wenn man etwas hat, das mehr ist als materielle Dinge. Und ich glaube nicht an diesen Materialismus, an diese Konsumgesellschaft, an diesen Kapitalismus, an diese Bereicherung der Leute, die kein Recht haben, sich an uns zu bereichern. Ich glaube wirklich an etwas, und das nenne ich »ein Tag wird kommen«. Und eines Tages wird es kommen. Ja, wahrscheinlich wird es nicht kommen, denn man hat es ja uns ja immer zerstört, seit so viel tausend Jahren hat man es immer zerstört. Es wird nicht kommen, und trotzdem glaube ich daran. Denn wenn ich mehr daran glauben kann, kann ich auch nicht mehr schreiben.«
Ingeborg Bachmann in einem Aufsatz aus dem Jahr 1973, der ursprünglich für ein Filmporträt geplant war und erst posthum in dem Interviewband »Wir müssen wahre Sätze finden« (Piper 1983) veröffentlicht wurde. Einmal mehr kommt hier die gesellschaftspolitische Haltung der großen Schriftstellerin zum Ausdruck, die sie schon in ihren Frankfurter Vorlesungen »Probleme zeitgenössischer Dichtung« deutlich formuliert hatte; die aber gerne - insbesondere im Kontext ihrer Beziehungen zu Paul Celan und Max Frisch - übersehen oder lediglich als Marginalie verstanden wird. Ingeborg Bachmann, von der Kritik für ihren ersten Gedichtband »Die gestundete Zeit« hochgejubelt und nach ihrer Veröffentlichung von »Malina« als »gefallene Lyrikerin« (Reich-Ranicki) massiv kritisiert, wurde am 25.6.1926 in Klagenfurt geboren – 1973 starb sie (mythenumwoben) n Rom.
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