aufgelesen [49]
Meine Sprache und ich
»Hast du Hunger? Ich schon. Aber ich habe so eine Art, immer einen Hunger auszulassen. Erst einen, dann zwei, dann drei. Aber dann kommt eine Mahlzeit, das sage ich dir. Da bleibt nichts weg, da kommt alles auf den Tisch, alles vor mich hin. Da tummeln sie sich, rund um mich herum, da habe ichs dann. Schläfrig? Dann schlaf eben, schlaf nur. Ich schaue für dich.
Da sitze ich dann mit meiner Sprache, nur drei Meter von denen entfernt, die so reden. Aber wir sind durch, wir haben passiert, wir können uns niederlassen, wenn wir atemlos sind. Öde Flecken genug, eine Decke darauf, die Sonne scheint überall. Meine Sprache und ich, wir reden nicht miteinander, wir haben uns nichts zu sagen. Was ich wissen muss, weiß ich, kalte Küche ist ihr lieber als warme, nicht einmal der Kaffee soll heiß sein. Das beschäftigt einen schon. Da hat man zu tun, zu decken, aufzuschneiden, die Kälte zu messen, die Wärme vergehen zu lassen.«
Ilse Aichinger in »Meine Sprache und ich« (In: Eliza Eliza. Erzählungen. Fischer, 2016). Heute vor 98 Jahren, am 1. November 1921, wird sie mit ihrer Zwillingsschwester Helga in Wien geboren. Schriftstellerin will sie eigentlich nie werden, eher Ärztin; das Medizinstudium bricht sie ab. Es kommt anders: Ilse Aichinger stößt früh zur Gruppe 47, veröffentlicht »Eine größere Hoffnung«, Auftakt für ihren literarischen Werdegang und zahlreiche Auszeichnungen.
Ilse Aichinger bringt das Schweigen in die Sprache, vielmehr zur Sprache, mit ihren Prosagedichten und Prosaminiaturen wie Hemlin oder Queens hinterfragt sie vorherrschende Lesegewohnheiten, schreibt gegen die Grenzen der literarischen Konvention, bringt Neues auf den Weg. Darin eingeflochten, immer wieder: Die inhumanen Dimensionen und Grausamkeiten des Nationalsozialismus.
Am 11.11.2016 stirbt sie in ihrer Heimatstadt Wien.
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