Briefe an Freunde
Neulich wurde ich von meinen Eltern gebeten, endlich meine alten Schulsachen in Kisten zu packen, damit sie achtlos auf dem Dachboden verstauben konnten. Dieser Vorgang nahm viele Stunden in Anspruch, weil ich jedes Schreibheft wie eine kostbare Reliquie in den Händen hielt. Es waren schließlich die ersten Schreibversuche eines, wenn mich nicht alles täuschte, irgendwann sehr berühmt werdenden Schriftstellers zu bewundern. Ein kleiner Schatz für das Literaturarchiv in Marbach. In einem Heimatkundeheft las ich zum Beispiel die Überschrift: „Die Arbeit von Fauen“. Hatte sich der kleine angehende Großschriftsteller in kreativem Übermut die Arbeit von Pfauen vorgestellt, womöglich Radschlagen oder Herumstolzieren? Und war, so fällt mir ein, Stefan Zweig nicht auch mit Rechtschreibschwäche begabt gewesen? Dann folgte eine Aufzählung: „Lehrerin, Erzieherin, Sachbearbeiterim, Ärtzin, Krankenschwester“. Und darauf der Satz: „Die Betriebe sorgen für die Frauen durch Kindergärten, Kippen, Betriebsküchen.“ Die freie Versorgung mit Kippen hätte die DDR in ein Einwanderungsland verwandeln können, wäre dieser Rechtschreibfehler rechtzeitig ans Politbüro weitergeleitet worden. Eine historische Chance wurde vertan. Und schließlich die fehlerfreie, jedoch ohne Vision geadelte Selbstverpflichtung: „Wir Kinder helfen unseren Muttis zu Hause.“ So was konnte mir tatsächlich nur in den Mund gelegt worden sein. Zum Glück gibt es im Kapitalismus Geschirrspüler, sonst hätte sich meine Freundin längst von mir getrennt.
Da es mit meiner Rechtschreibung eher unrechtmäßig weiterging, gab mir meine Mutter irgendwann den Rat, beim Aufsatzschreiben immer nur solche Worte zu verwenden, die ich richtig schreiben kann. Auf diese Weise habe sie immer gute Rechtschreibnoten erhalten. Hätte ich ihren Rat befolgt, wäre ich jetzt Bankbeamter oder Mitarbeiter der Dudenredaktion. Aber es gilt das erste linguistische Gesetz: Wer eine Eins in Orthographie bekommt, ist für die Dichtung verloren. Jeder sollte einmal still für sich überprüfen, wer damals eine Eins in Rechtschreiben hatte und wer heute in einem Reihenhäuschen wohnt. Das dürfte einen signifikanten Zusammenhang ergeben. Vielleicht wollte mich meine Mutter ja vor dem Schicksal bewahren, ein Unbereihenhauster zu werden. Unverstanden war ich bereits, besonders bei den Mädchen. Später machte ich daraus keine Tugend, sondern wehleidige Liebesgedichte. Was, wer mich heute kennt, wohl immer noch jeder glauben würde, wenn ich nicht durch regelmäßiges Kolumnenschreiben dieses Problem in den Griff bekommen hätte. Inzwischen bin ich liebesgedichtabstinent.
Unter den Schulbüchern, die ich ebenfalls in Kisten sortierte, befand sich ein schmales Büchlein. Es trägt den Titel: „Briefe an Freunde“. Und plötzlich, aus dem tiefen Dunkel, in welches hinein ich alles verbannt hatte, was mir im Russischunterricht beigebracht worden war, dämmerte es mir; mit diesem Büchlein war uns einst aufgetragen, die deutsch-sowjetische Brieffreundschaft zu befördern. Es enthält einzelne Wendungen und Satzglieder sowie einige Briefmuster, die beim Abfassen helfen sollten. Es gibt auch ein Vorwort, das so beginnt: „Liebe Mädel und Jungen! Russisch ist die Sprache des russischen Volkes.“ Das klingt einleuchtend. Weiter hinten im Vorwort empfehlen die Herausgeber: „Schreibt das, was Ihr einem guten Freund erzählen wollt.“ Ich blätterte weiter. Links stehen die Wendungen auf Deutsch, rechts in Russisch. Man konnte zum Beispiel mitteilen:
Unsere Schule hat einen Patenschaftsvertrag mit der LPG abgeschlossen.
Oder.
Es lebe die deutsch-sowjetische Freundschaft!
Denn, wer hatte noch nicht das Bedürfnis, dies einem guten Freund erzählen zu wollen. Das Büchlein bietet auch verschiedene Varianten eines Satzes an:
Unsere Pioniergruppe … Unsere Klasse bereitete sich vor …auf den Jahrestag …
des Pionierverbandes.
der Oktoberrevolution.
der Gründung der DDR.
auf den 1. Mai.
auf den Tag der Befreiung vom Faschismus.
auf den Tag des Lehrers.
auf die Jugendweihe.
auf den Weltfriedenstag.
auf den Tag des Kindes.
auf den Internationalen Frauentag.
Und an dieser Stelle breche ich einfach mal ab. Mir scheint, daß wir damals aus den Festvorbereitungen gar nicht mehr herausgekommen sind. Das sozialistische Feierjahr hatte also mindestens soviel zu bieten wie ein traditionelles Kirchenjahr. Es wurden dann sogar die nicht ganz aus der Welt zu schaffenden Feiertage eines sich nur langsam wandelnden Überbaus erwähnt. Zur Erklärung für den russischen Brieffreund wurden dazu folgende Sätze angeboten:
Das Weihnachtsfest …
Das Osterfest …
war früher ein religiöses Fest.
Heute ist es vor allem ein Volksfest.
Meine katholische Freundin dürfte das zumindest anders gesehen haben.
Kapitel vier des Büchleins hätte mich, der ich damals ein kleiner Militarist war, ganz besonders beredt gegenüber meinem Brieffreund machen müssen, da heißt es nämlich:
Wir besichtigen die Kaserne unserer Stadt.
Die Soldaten zeigen uns …
das Traditionszimmer der Einheit.
Lehrklassen.
Schützenpanzer.
Panzer.
Geschütze.
Funkstationen.
etc.
Also alles, was das Herz eines sozial- und emotional beschränkten Zwölfjährigen begehrte.
Praktisch ist auch, daß dieses Buch eine ganze Seite darüber anbietet, warum man den letzten Brief verspätet beantwortet hat:
Entschuldige bitte, daß ich Deinen Brief nicht sofort beantwortet habe.
Wir hatten Prüfungen, und da mußte ich fleißig lernen.
Schon drei Wochen sind es her, daß ich Deinen Brief erhielt.
Ich habe so lange nicht geschrieben, weil ich krank war.
Entschuldige bitte!
Ich möchte mich bei Dir dafür entschuldigen, daß ich erst heute Deinen Brief vom 23. Februar beantworte.
Ich war mit meinen Eltern während der Ferien verreist.
usw.
Hätte ich eine Brieffreundschaft aufgedrückt bekommen, was von meiner Klassenlehrerin oft versucht wurde, wären das meine gebräuchlichsten Wendungen geworden. Aber ich mochte Briefeschreiben überhaupt nicht. Der Berlinoma, die so hieß, weil sie in Berlin wohnte, mußte ich immer einen Dankesbrief für die Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke schreiben. Wenn ich das nicht tue, so meine Mutter, würde es auch keine Geschenke mehr geben. Das blieben lange Zeit die einzigen Briefe, die ich schrieb, allerdings aus reinem Vulgärmaterialismus. Meinen ersten freiwilligen Brief habe ich dann einem Mädchen geschrieben, in das ich mich verliebt hatte. Nach drei Wochen schrieb sie sinngemäß zurück:
„Entschuldige bitte, daß ich Deinen Brief nicht sofort beantwortet habe. Wir hatten Prüfungen, und da mußte ich fleißig lernen.
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