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Kritik

Das Bild in der Suche nach Sinn

Über Andrea Sabischs Studie Bildwerdung
Hamburg

Es gibt nur wenige Studien, in denen minutiös die Erfahrung künstlerischer Arbeiten untersucht wird. Beispielhaft sind hier die Bücher Blick – Wort – Berührung von Maria Peters und der Sammelband Vor dem Kunstwerk, herausgegeben von Heiko Hausendorf. Während Maria Peters 1996 in ihrer Studie die Versprachlichung von Tasterfahrungen an Skulpturen thematisierte – anhand der Texte einer Gruppe von Schülerinnen und Schülern –, operiert, so könnte man sagen, Hausendorfs Darstellung 2007 bereits mit eye-tracking-Verfahren, der sequenziellen Bilderschließung von Blickbewegungen angesichts eines Kunstwerks. Es entsteht so ein Spektrum von phänomenologisch beschreibender Sicht angefangen, bis hin zu empirischen Berechnungen. Andrea Sabisch hat nun eine Studie veröffentlicht, welche die Schwerpunkte erneut verschiebt, neue Forschungsansätze eröffnet und sicher als aktuelle, dritte Referenz in diesem Zusammenhang genannt werden muss.

In ihrem Band Bildwerdung verfolgt sie eine, wie sie schreibt, indirekte Empirie, vor dem Hintergrund einer Erfahrungslehre, Phänomenologie, die das Eigene – in Anlehnung an Bernhard Waldenfels – stets vom Fremden her zu verstehen sucht, den Bezug vom Entzug her, das Kommen vom Gehen. Das Direkte ist einer Konstruktion zu verdanken, deren Stabilisierung selbst Bedingungen kennt, die nicht garantiert sind, gegeben, die es zu sichern gilt. In solchen Konstruktionen, Modellen, bewegt sich die naturwissenschaftliche Empirie, also auch das eye-tracking, zum Beispiel. Konstruktion, Synthese, ist eine mentale Leistung, die körperlich, physisch, aus und mit der sinnlichen wie imaginären Fragmentierung entsteht. Jede und jeder kann das für sich selbst nachprüfen: wie zwei Augen dank unserer Einbildungskraft einen Seheindruck generieren, wie aber diese Übereinkunft gestört werden kann, mit dem eigenen Finger vor der Nase, und der Eindruck zerfällt, in zwei, entzwei.

Der empirische Anspruch muss also auf seine Bedingungen hin überprüft werden. Hinzu kommt: Bestimmte Gewahrwerdungen sind nur passiv, indirekt erfahrbar, lassen sich nicht aktivisch wenden – ich kann nicht aktiv, bewusst vergessen, nur passiv, ich kann mein Erwachen nicht aktiv einsetzen, es nur im nachhinein bereits mitvollziehen. Bilderfahrungen entziehen sich selbst bisweilen einer sukzessiven Versprachlichung, ihre schlagartige Eindrücklichkeit ist nicht immer überführbar, noch in Worte, noch in messbares Kalkül. Andrea Sabisch verbindet diese Prämissen zu einem besonderen Untersuchungsansatz: Einigen jugendlichen Schülerinnen und Schülern zeigte sie textlose Bildgeschichten, graphic novels, einmal Lo Straniero von Simone Kesting, einmal Le visiteur von Barbara Yelin. Beide Bände sind vollständig in Sabischs Studie wiedergegeben. Es ergibt sich dadurch eine besondere Dramaturgie des Buches: beginnend mit wissenschaftlichen  Grundannahmen, wie sie hier kurz angedeutet wurden, dann abgewechselt von integralen Bildgeschichten, die wiederum von Analysen der spontanen Reaktionen der Jugendlichen alteriert werden. Diese Analysen basieren auf Videoaufzeichnungen des gestisch Gezeigten und dabei Gesprochenen, es durchdringt sich hier also im Medium Video, was bei Peters und Hausendorf auf textlicher, fotografischer bzw. computerisierter Aufzeichnung basiert. Zugunsten einer distanzierten Analyse überträgt Sabisch die farbräumlichen Videobilder in schwarz-weiße, graphisch-lineare Zeichnungen, so dass die Gesten und Haltungen deutlich konturiert sind.

Ihr Augenmerk liegt nun insbesondere auf den Momenten der Befremdung, des Stockens, der Suche. Mit ihnen wird Sinn erprobt, im Austausch mit anderen. So überlegen zwei Schülerinnen, wie sie ein Bild beschreiben sollen, bei dem eine Figur ihre langen Haare im Wasser wäscht, sie steht selbst darin, und das Spiegelbild auf dem Wasser scheint zu suggerieren, als ob die ins Wasser gehaltenen Haare ihr entgegenkommen, aus dem Wasser herauf sie sie wäscht. Ein Mädchen meint, „es könnte sein, dass sie versucht...ihre Gedanken...zu waschen...“ Was Sinn verspricht, wird geäußert. Zugleich stimmt das andere Mädchen nicht anerkennend genug ein, dass ihm die Unsicherheit über seinen Versuch genommen würde. Beide unterhalten sich weiter, suchen die Verständigung noch vor dem eigenen, poetischen Finden, wie es sich in der durchaus passenden, anspielungsreichen Assoziation – die Figur würde ihre Gedanken ‚waschen‘ – angedeutet hat.

Sabisch gelingt es, in der exakten Dokumentation einer offenen Aufgabe – was fällt euch dazu ein? ihren Anspruch einer indirekten Empirie produktiv zu machen, indem Sinn nicht bereits unterstellt ist und die Bilderfahrung als eine genau der Suche danach erscheint, in Gesten und Worten, in der Durchmischung des Gesehenen mit eigenen Vorstellungen und Sprachmustern. Die Offenheit der Aufgabe korrespondiert mit der Offenheit der künstlerischen Arbeiten. Die Frage im Anschluss hieran ist, wie sich diese Grundlagenforschung in der Kunsterfahrung und Kunstpraxis im weiten, alltäglichen Horizont anderer Bild- und Medienerfahrungen darstellt. Was, wenn nicht zwei Offenheiten korrespondieren, vielmehr Offenheit selbst erst gefunden werden muss, inmitten auf Gebrauch getrimmter, user-bestimmter, zielgerichteter, marktgängiger, anschlussfähiger Bild- und Medienproduktionen, auf Bedienung und Verhalten programmiert? Auch dafür hilft der Ansatz von Andrea Sabisch weiter: indem sie genau auf die Konditionen des Konstruierten zurückgeht, das Fremde, den Entzug im Modell ausfindig macht, indirekt dokumentiert. Welches vermeintliche Fehlverhalten schleicht sich ein, in den Gebrauch konformistischer Bilder und Medien? Kreativität in der Popkultur rührt nicht selten von einem feinen Gespür für genau solches Fehlverhalten her, indem es zum Stil, zur Masche, zum Markenzeichen erhoben wird. Gesten der Rückgewinnung offener Spielräume. Simone Kesting zeigt, was Anika, die Schülerin, in Worte fasst: Man kann seine Gedanken waschen. In der Kunst wie in der Popkultur – und sogar in der wissenschaftlichen Bildbetrachtung.

Andrea Sabisch
Bildwerdung / Reflexionen zur pathischen und performativen Dimension der Bilderfahrung
kopaed
2018 · 29,80 Euro
ISBN:
978-3-86736-427-0

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