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Kritik

Ein Leben – Annie Ernaux über ihre Mutter

Hamburg

Am 7. April 1986 ist Annie Ernaux’ Mutter in einem Altenheim am Stadtrand von Paris gestorben. Dreizehn Tage nach ihrem Tod begann Ernaux mit der Niederschrift eines kurzen Buches, das zu einem Requiem auf die verstorbene Mutter wurde. Der kleine Band erschien in Frankreich bereits 1988, jetzt ist bei Suhrkamp eine deutsche Ausgabe verfügbar, übertragen von Sonja Finck, die für Suhrkamp in den vergangenen zwei Jahren bereits drei weitere Bücher von Ernaux übersetzt hat.

Vordergründig skizziert Ernaux das Leben ihrer Mutter und ihre Beziehung mit ihr, die, wie konnte es anders sein, über die Jahrzehnte eine wechselvolle war. Darüber hinaus beschreibt das Buch den Prozess des Loslösens und des Weiterlebens nach ihrem Tod. Wobei Ernaux, wie sie zu Beginn erläutert, eine andere Herangehensweise wählte als bei vorangegangenen Büchern, etwa über ihren Vater oder ihren Mann. Denn sie wartete bewusst nicht, bis die Ereignisse, die Krankheit und das Sterben der Mutter, Teil der eigenen Vergangenheit wurden und dadurch die Analyse an die Stelle der Erinnerung trat; sondern ihr Ansatz war diesmal impulsiv, sie musste mit dem Schreiben beginnen, um sich schreibend ein Bild von der Frau zu machen, die, wie sie sagt, die einzige Frau in ihrem Leben war, die ihr etwas bedeutet hat.

Obwohl nur 89 Seiten lang, ist die Vielschichtigkeit des Textes bemerkenswert. Ernaux bemühte sich, die Frau zu beschreiben, die sowohl in ihr als auch außerhalb von ihr existiert hat. Sie zeichnet einerseits ein sehr persönliches Bild der Mutter; und schildert andererseits das Leben einer Frau, „die am ländlichen Rand einer Kleinstadt in der Normandie geboren wurde und auf der geriatrischen Station eines Krankenhauses in einem Vorort von Paris gestorben ist.“ Beide Seiten fließen ineinander und fügen sich zu einem Ganzen: „Jetzt ist alles miteinander verbunden“, heißt es gegen Ende des Buches; und man fühlt die Erleichterung nach, die Ernaux beim Schreiben dieses Satzes verspürt haben dürfte.

Immer wieder unterbricht Ernaux ihre Erzählung, um ihren Standpunkt neu zu reflektieren. Wobei die Eindrücke nicht immer kohärent sind. So heißt es an einer Stelle, das Schreiben über die Mutter trage dazu bei, „sie dadurch zur Welt zu bringen“. Wenige Seiten später dann die Erkenntnis, dass die Veröffentlichung des Buches ihren „endgültigen Tod“ bedeutete. Eine Auflösung erfolgt nicht, braucht es auch nicht. Das Suchende, mitunter Unbestimmte, ist es, das den besonderen Charakter dieses Buches ausmacht, und seine Qualität.

Die Schule mit zwölfeinhalb zu verlassen, um in einer Margarinefabrik zu arbeiten, habe die Mutter weder glücklich noch unglücklich gemacht. Später sei sie stolz darauf gewesen, „Arbeiterin in einer großen Fabrik zu sein“. Ihr Traum jedoch sei es gewesen, „in einem Laden zu arbeiten“. Diesen Traum erfüllte sie sich, als sie 1931, drei Jahre nach der Hochzeit, eine Gaststätte mit Lebensmittelladen in Lillebonne pachtete, der Ortschaft mit der damals höchsten Konzentration an Alkoholikern und alleinstehenden Müttern in der Gegend, so Ernaux. Weil der Laden nicht genug einbrachte, arbeitete der Vater weiterhin auf Baustellen, später in einer Raffinerie; um das Geschäft kümmerte sich die Mutter derweil alleine.

Ihr war wichtig, „mir alles zu geben, was sie selbst nicht gehabt hatte“, schreibt Ernaux, geboren 1940. Sie gingen ins Museum und besichtigten historische Bauwerke. Nicht so sehr, weil sich die Mutter selbst daran erfreut habe, sondern weil sie wusste, dass dies Dinge waren, die „dem Geschmack und den Interessen gebildeter Menschen entsprachen“. Aufstieg sei für sie eine Frage der Bildung gewesen; vor Büchern habe sie so viel Hochachtung gehabt, dass sie sich jedes Mal die Hände wusch, bevor sie sie anfasste.

Später kam die Entfremdung. Als Jugendliche schämte sich Ernaux für den barschen Ton und das forsche Auftreten der Mutter – auch weil sie ahnte, wie ähnlich sich die beiden darin waren. Zur Gewissheit wird derlei freilich immer erst in der Rückschau.

Als die Mutter Jahre nach dem Tod des Mannes zu ihrer Tochter und deren Familie zog, versuchte sie sich nützlich zu machen – und wurde doch das Gefühl nie ganz los, nicht ins Bild zu passen. Der soziale Aufstieg der Tochter hatte die beiden voneinander entfremdet, zwei Welten trafen aufeinander: „Es dauerte, bis ich begriff, dass meine Mutter in meinem Haus dasselbe Unbehagen empfand, das ich als Jugendliche in «besseren Kreisen» empfunden hatte.“ Rückblickend versteht Ernaux, dass die Rolle der Hausangestellten, die die Mutter zu spielen versuchte, ihre Form der Rebellion war.

Im Alter kam die Demenz. Ihre letzten Lebensjahre verbrachte die Mutter in einem Pflegeheim, jenem „Raum ohne Jahreszeiten, mit gleichbleibender Temperatur und gleichbleibendem Geruch […], in dem es nur die reibungslose Wiederholung der Lebensfunktionen gab“. Der Gedanke, dass die Mutter sterben konnte, wurde erstmals greifbar – und entsetzte Ernaux. Mit ihrem Tod sei die letzte Verbindung zur Welt ihrer Herkunft abgebrochen, schreibt sie. Und an die Stelle des lange erwarteten Gefühls der Befreiung traten Trauer und Trennungsschmerz; wenige Tage später begann sie mit der Niederschrift ihres Buches.

„Eine Frau“ ist nicht zuletzt deshalb so lesenswert, weil die geschilderte Mutter-Tochter-Beziehung so gewöhnlich ist – und damit symptomatisch für unzählige Eltern-Kind-Beziehungen, bei denen der ersehnte Bildungsaufstieg der Kinder fast zwangsläufig zu einer Entfremdung führte. „[S]ie verkaufte von morgens bis abends Kartoffeln und Milch, damit ich in einer Vorlesung über Platon sitzen konnte“, heißt es bei Ernaux. Erst Krankheit und Gebrechlichkeit im Alter führten die auseinandergedrifteten Lebenswege wieder zusammen.

Geht man davon aus, dass jede Generation ihren eigenen Lebensweg finden und gestalten muss, und Aufbruch und Bewahrung dabei zwangsläufig ein Spannungsfeld bilden, darf man Ernaux’ Erzählung über das Leben und Sterben ihrer Mutter, und vor allem die Art, wie beide Leben im Anfang und am Ende miteinander verbunden waren, durchaus als ein heiteres Buch verstehen. 

Annie Ernaux
Eine Frau
Übersetzung: Sonja Finck
Suhrkamp
2019 · 88 Seiten · 18,00 Euro
ISBN:
978-3-518-22512-7

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