Ein Wollpulli für das Meer.
Es braucht das alles: Den weichen grünen Einband, den man blind im Regal findet, den tröstlichen Titel, es braucht die Gedichte, es braucht die Übersetzung. Es braucht dies, weil die Gedichte in diesem Band aus einem Kontext entstehen, der kaum Trost zulässt und ihn genau deshalb so nötig hat. Ein Krieg in Syrien, eine Flucht über das Mittelmeer, ein Exil in einer mittelgroßen deutschen Stadt. Wie über das Unfassbare zu schreiben möglich ist, im Kleinen nämlich, und dann und gerade so doch Trost findend, das zeigen diese Gedichte.
Aref Hamza schreibt auf arabisch und ist in der arabischsprachigen Welt mit sieben Gedichtbänden bereits eine etablierte lyrische Stimme. Der Verlag Secession hat nun eine zweisprachige Ausgabe mit deutscher Übersetzung verlegt. Einige der Gedichte sind bereits 2018 in der Wunderhorn-Anthologie „Deine Angst – Dein Paradies. Gedichte aus Syrien“ erschienen. Auch lyrikline.org hat Hamza in seine Hörbibliothek aufgenommen. Die nun gesammelt erschienenen Texte sind zwischen 2013 und 2017 in Syrien, der Türkei und Deutschland entstanden und beziehen sich sehr konkret auf Kriegs-, Flucht- und Exilerfahrungen.
Du schaust auf das große Gemälde
An der Wand gegenüber
Mit dem Hengst, der Hals über Kopf ins Tal stürzt
Und sagst deiner Freundin am Telefon:
„Es geht uns gut … Es geht uns gut.“
Es geht um das kleine Schlimmste, das auf das große Schreckliche verweist. Das Einzelne, Nahe, das auf eine Ahnung von einem Krieg hindeutet, der kaum fasslich sein kann. Deutlich wird dabei, dass es an keiner Stelle um eine Anklage geht und dass hier Täter nicht konkret benannt und angeprangert werden; wer hier schießt ist Teil eines „Anderen“. Die Verletzungen sind in ihrer Klarheit die Beweise für alles, für das die Sprache nicht reicht und nicht reichen will. Das ist der „Maßstab“:
Dein im Krieg verletzter Finger
deine Stimme voller Schotter
dein ewiges Weinen, wenn du neben mir schläfst
bedeuten mir so viel wie ein ganzes Land.
Die Struktur des Bandes folgt einer geographischen Chronologie: Er beginnt in Syrien und bewegt sich über die Flucht auf dem Mittelmeer und in der Türkei im zweiten Teil nach Deutschland. Wo die Unmittelbarkeit der Ereignisse in der ersten Hälfte eine kurze Form erfordert (manche dieser Gedichte bestehen nur aus zwei oder wenig mehr Versen), werden die Texte im zweiten Teil länger und setzen sich häufig aus einer Reihe mehrerer Gedichten zusammen. Sie lassen Raum für Erinnerungen und Reflexionen und fallen in einen erzählerischen Stil.
Damit es so aussieht wie wir
1
Mein rechter Fuß blutet noch immer
als hinge ich noch immer fest zwischen Stacheldraht, Minenfeld
und dem türkischen Scharfschützen, der seinen Spaß hat und mich
nicht tötet.
Als hätte ich gar nicht vor Jahren mein Land verlassen
und niemandem den Rücken gekehrt!2
Ich bin die Pflanze im Blumentopf auf dem Balkon
die Pflanze, die du zu gießen pflegtest
die wuchs und vertrocknete
ohne sich zu beklagen.
All diese Jahre sind vergangen
und du wusstest von nichts.3
Ich wollte hingehen und das Meer zudecken
das zitternde, mit einem kleinen Schal
mit einem Wollpulli, der ihm zu groß ist
damit es so aussieht wie wir.
Es ist, als ob die Drastik der Ereignisse und Bilder eine Klarheit der Sprache forderten, denen Hamza nachgeben muss. Dass hier „Liebe“ und „Krieg“ ganz und gar nicht mit einem Pathos einhergehen, den sie in der deutschen Sprache so schnell einfangen, liegt an der Ruhe und Sanftheit, dem diese Gedichte verpflichtet sind. Und trotzdem bleibt eine Fremdheitserfahrung nicht aus.
Endlich sind wir angekommen
in dem Land, wo die Zeit rast so schnell, wie sie kann.
Und weil wir Glück haben,
rast sie auch
ohne Erinnerungen.
So viel Großes sind wir von der deutschen Gegenwartslyrik nicht gewohnt. Und an diesen abstrakten Begriffen wird der Stellenwert der Übersetzung von Sandra Hetzl besonders deutlich. Die Übersetzung in eine deutsche Sprache machen die Gedichte als deutschsprachige Gedichte lesbar und sie ist wesentlich daran beteiligt, dass ich frage: Was macht eine „Erinnerung“ als deutsches Wort „Erinnerung“ in einer deutschen Übersetzung eines arabischen, arabischsprachigen Gedichts? Und auch wenn diese Begriffe immer getragen werden durch kleine Szenen, durch sehr konkrete Bilder ohne großen Symbolcharakter, bleibt doch der schwere Eindruck dieser Worte, weil die Gedichte ganz klar von ihnen (mit) bestimmt werden.
Die Fremdheit rührt auch daher, dass wir die Bilder von zerstörten Häusern und weinenden Menschen aus Kriegsgebieten wie Syrien zwar aus den Abendnachrichten kennen, sie aber von den Einzelschicksalen, von dem Kleinen getrennt haben. Krieg ist erträglicher, wenn wir ihn als strukturelles Problem begreifen können. Hamza hält dagegen: Mit einem Wollpulli, einem Schal für das Meer, mit einer Pflanze in einem Blumentopf auf einem Balkon, mit einem verletzten Finger. Von dem Kleinen geht er aus und in dem Kleinen steckt die ganze Gewalt. Das kleine ist angreifbar und macht angreifbar beim Lesen.
Und dann gibt es das Sprechen, das sich immer wieder, sehr sanft an dieses Du wendet – vielleicht aus einer Einsamkeit heraus, vielleicht zu sich selbst. Aber sicher ist, dass in diesem Sprechen aneinander ein Wir entsteht, eine Kraft. Dass die Kinder noch immer spielen, in einem ausgebrannten Panzer und dass, zwischen den Scharfschützen, den Kugeln, die Vögel immer noch auf der Wäscheleine sitzen. Dass es dies alles immer noch gibt, und immer deutlicher, aus dem absurden Kontrast heraus, aus Trotz und aus einer Notwendigkeit.
Vielleicht kommst du ja noch
also versteck ich den Schlüssel unter der gleichen Steinplatte.
Und reparier noch rasch das Licht im Gang
damit dich nicht plötzlich die Wand umarmt.
Und Kleidungsstücke lasse ich überall verstreut herumliegen
zwischen Bad und Schlafzimmer
wie es diejenigen tun, die einen brutal überfallen.
Vielleicht kommst du ja noch, Leben
und findest dann einen riesigen Ort vor
den alle anderen verlassen haben.
Und der Trost? Liegt er in der Sprache? Liegt er darin, diese Gedichte zu haben? Wer liest sie wie? Was bedeutet die Fremde (für deutsche Leseaugen, für Exilanten)? Indem sie uns Hamza erzählt, uns seine Fremdheitserfahrungen mit dem Krieg in seinem Heimatland und mit der deutschen Küste formuliert, stoßen wir auf eine fremde Sprache, obwohl sie deutsch, obwohl sie so nah zu uns hergeholt wird. Und darum geht es. Um das Aushalten und den Trost, der gleichermaßen darin liegt, (diese) Gedichte zu schreiben und zu lesen.
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