Auch Hugo Ball schwebt schon im All
Am 24. Februar 2005 gab es im Hessischen Literaturforum im Mousonturm in Frankfurt am Main eine Veranstaltung mit dem wohlklingenden Titel "Auch Hugo Ball schwebt schon im All". Dort habe ich zusammen mit anderen selbst gelesen, denn es ging - so der Untertitel - um "Texte aus kreativen Schreibwerkstätten". Nur mit Hugo Ball hatte diese Veranstaltung überhaupt nichts zu tun gehabt. Also wer ist Hugo Ball? Wer sich halbwegs mit Kunst beschäftigt, bringt diesen Namen vielleicht noch mit dem Dadaismus, dem "Cabaret Voltaire" in Zürich in den 1910er Jahren in Verbindung. Aber das war es dann meist auch schon gewesen.
Das vorliegende Buch ist mit über sieben hundert Seiten in gebundener Form sehr umfangreich. Es umfasst neben der eigentlichen "Flucht", die im Januar 1927 erschienen ist, also acht Monate vor Balls frühem Tod, 28 Fragmente von Typoskriptseiten, die nur als Kopie erhalten sind (es wurden nur die ausgewählt, die einen Bezug zur "Flucht" haben), sowie einem umfangreichen Anhang. Der Anhang besteht wiederum unter anderem aus zwei Vorworten zu früheren Ausgaben (eines von Hermann Hesse und eines von Emmy Ball-Hennings, der Lebensgefährtin und späteren Frau von Hugo Ball), zeitgenössischen Rezensionen, einem Kommentar und einem Nachwort. Ich bin kein Literaturwissenschaftler oder Philologe, habe aber den Eindruck, dass dieses Buch vollauf (literatur)wissenschaftlichen Standards genügt. Entsprechend umfangreich ist auch der Kommentar. Viele Details darin sind für den gemeinen Leser nicht so interessant. Aber ohne die zahlreichen Informationen zu (historischen) Begebenheiten, zu Autoren, Künstlern, Politikern etc. (insbesondere, wenn sie nach zirka ein hundert Jahren in Vergessenheit geraten sind), wäre die "Flucht" heutzutage schon schwer verständlich.
Emmy Ball-Hennings hat in ihrem Vorwort den Aufbau und prinzipiellen Inhalt der "Flucht" gut beschrieben: "Man kann in Kürze angeben, dass sich Hugo Balls 'Flucht' in drei Etappen vollzieht. Im ersten Teil 'Die Kulisse' entflieht er dem Theater, der Scheinwelt. Im andern Abschnitt 'Wort und Bild' setzt er sich mit verschiedenen Kunstrichtungen auseinander, vom Impressionismus zum Expressionismus und über den Dadaismus hinwegsteigend. Nach diesem kommt er zur Politik, und dies ist der dritte Teil des Buches. 'Von Gottes- und Menschenrechten' heißt das Kapitel. Der Ausklang ist 'Die Flucht zum Grunde'. Die Hinwendung zur Kirche, zum rein geistigen Leben, das zugleich Askese und Mystik umfaßt."
In diesem ersten Kapitel "Die Kulisse", tagebuchmäßig notiert, umfaßt es größtenteils die Zeit vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Zu dieser Zeit war Ball noch sehr angetan vom Theater: "Das Theater allein ist imstande, die neue Gesellschaft zu formen." Später hat er seine Meinung komplett geändert. Zu Leontine Sagan hat er einmal geäußert: "Das Theater? Glaubst Du wirklich noch an diesen Popanz [...]?"
Das zweite Kapitel "Romantizismen - Das Wort und das Bild" beginnt mit der Entstehung des "Cabaret Voltaire" und Dada in Zürich Anfang 1916. Bekannt geworden ist Ball ja auch durch seine dort vorgetragenen Lautgedichte. In der "Flucht" setzt er sich auch intensiv mit der Sprache, den Wörtern auseinander: "Ich will keine Worte, die andere erfunden haben". Auch hier kann man bereits erste Anzeichen für seine spätere Hinwendung zur katholischen Kirche sehen: "Das Wort und das Bild sind eins. Maler und Dichter gehören zusammen. Christus ist Bild und Wort." Bzw. "Wir haben das Wort mit Kräften und Energien geladen, die uns den evangelischen Begriff des 'Wortes' (logos) als eines magischen Komplexbildes wieder entdecken ließen." Und wozu Worte bzw. die Magie, ein Begriff, der sich durch die ganze "Flucht" hindurchzieht?: "Magie ist der Glaube, dass der Mensch durch geistige Kraft sich und die Umwelt verändern kann."
Interessant ist auch die Bedeutung des Buchtitels. Er wurde ja von Rezensenten schon seinerzeit als eine (feige) Weltflucht Balls missverstanden. Ball galt ja sowieso, nachdem er sich zunächst freiwillig zum Militär gemeldet hatte und auch kurze Zeit an der Westfront war, sich dann aber durch Flucht in die Schweiz dem Krieg entzogen hat, in Deutschland verächtlich als Vaterlandsverräter. Der Untertitel der "Flucht" mag das mit hervorgerufen haben: De fuga saeculi heißt ja auch "Die Flucht vor der Welt". Wobei Ball mit dem Titel "Die Flucht aus der Zeit" anderes im Sinn hatte: "Sich so weit als möglich aus der Zeit entfernen, um sie zu überblicken." Bzw. "Der Heilige steht über und außerhalb der Zeit." Ball bezieht sich in der "Flucht" auch immer wieder auf Nietzsche. Und von ihm scheint er diesen Gedanken der "Flucht aus der Zeit" bekommen zu haben. Denn Nietzsche schreibt: "Was verlangt ein Philosoph am ersten und letzten von sich? Seine Zeit in sich zu überwinden, 'zeitlos' zu werden."
Das Buch besteht neben tagebuchartigen Notizen auch aus Überlegungen und Auseinandersetzungen mit vielerlei Büchern. Zeitgenössischen Rezensenten hatte das meist nicht gefallen: "Leider ist dieses Buch zu sehr ein Buch aus Büchern." Und: "Abhandlungen [...] (vielfach allerdings nur geistvolle Besprechungen anderer Bücher sind)." Aber es stimmt: Ball setzt sich viel mit Politik, Kunst, Religion, Psychologie etc. auseinander. Dabei wendet er sich in der "Flucht" durchgehend gegen den Marxismus, weil ihm das ein zu materialistischer bzw. ein rein ökonomischer Ansatz ist: "Nur eine theologische Veränderung könnte uns vorwärtsbringen; nur eine moralische, nicht eine ökonomische". Dagegen beschäftigt er sich im ersten Teil (ab Beginn des Ersten Weltkriegs) viel mit dem (theoretischen) Anarchismus (Bakunin, Kropotkin, Landauer etc.), aber auch ihn verwirft er später. In gleicher Weise hat Ball etwas gegen den Protestantismus, die Reformation. Auch ist ihm die Nähe der (evangelischen) Kirche zum preußischen Staat suspekt. Ball lehnt also Marxismus und Protestantismus gleichermaßen ab, stattdessen will er einen neuen, einen "integralen" Katholizismus. Also auch mehr das "Geistige", das "Asketische", nicht das "Materielle": "Der Glaube an die Materie [...] Die Maschine [...] lügt noch flagranter als jede Zeitung, die von ihr gedruckt wird."
Und so führt die "Flucht" dann im dritten Kapitel "Von Gottes- und Menschenrechten" und vor allem im vierten Kapitel "Die Flucht zum Grunde" immer mehr hin zum christlichen Glauben und zur katholischen Kirche. Balls Wunsch: "dass Deutschland eines Tages zum Katholizismus zurückkehrt." Für ihn ist seine "Flucht" daher nicht nur eine persönliche "Bekehrungs- und Bekenntnisschrift", sondern auch ein "Versuch einer Zeitanalyse, der es aufgegeben ist, der politischen, moralischen und religiösen Entfremdung der Nation ein Ende zu machen." Balls Rückkehr zur katholischen Kirche, er nennt es Konversion, dabei ist es eine Reversion, da er getaufter Katholik war, kann auf den 2. März 1922 datiert werden (so das Nachwort). Dort steht auch: "Balls Anspruch, in der Durcharbeitung seines Tagebuchmaterials den eigentlichen Vorgang seiner Konversion sichtbar gemacht zu haben."
Und hier kommen wir zu der spannenden Frage, ob es sich bei der "Flucht" wirklich um ein Tagebuch handelt. Laut Emmy Ball-Hennings in ihrem Vorwort ist die "Flucht" "der Rechenschaftsbericht seines Lebens nach seinen Tagebuchaufzeichnungen". Im Nachwort wird Emmy Ball-Hennings deutlicher: "bei der 'Flucht' handele es sich um 'ein sehr bearbeitetes Tagebuch', das 'aus Notizen, die Ball sich jahrelang gemacht, keineswegs etwa unmittelbar abgeschrieben' sei."
Die "Flucht" umfaßt ja die Jahre 1913 bis 1921. Die zugrundeliegenden Tagebücher dieser Zeit sind verschollen. Es ist anzunehmen, dass Ball sie nach Fertigstellung der "Flucht" vernichtet hat. In der vorliegenden Ausgabe wurden erstmals die noch vorhandenen unveröffentlichten Tagebücher der Jahre 1921 bis 1927 näher untersucht bezüglich der "Flucht". Die Herausgeber: "Ihre häufige Verwendung zeigt die besondere Arbeitsweise Balls und lässt an der Authentizität der übrigen tagebuchartigen Eintragungen zweifeln." Im Kommentar, aber auch im Nachwort wird dazu immer wieder belegt, dass Textpassagen aus den späteren Tagebüchern Eingang gefunden haben in die "Flucht".
Und so lässt sich abschließend sagen, dass es sich bei der "Flucht" schon um eine recht anspruchsvolle Lektüre handelt. Sie macht einen aber vertraut mit dem Leben und vor allem dem Denken von Hugo Ball (mit all seinen Widersprüchen), einem Menschen, der seinen ganz eigenen Weg gegangen ist, und der dabei stolz auf sein Anderssein war. Wie er trotz all der Wirrnisse und dem Chaos des Ersten Weltkriegs seine eigene Haltung bewahrt hat, die ihn konsequenterweise zu einem vergeistigten und asketischen Leben im Rahmen der katholischen Kirche letztendlich geführt hat.
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