Wacholdernoten, Buchhandlungsgeturtel und die Herrin der Fliegen
Fräulein Asche, Professor Schutt, Kirsten Ofen: Die Figuren in Eckhart Nickels „Hysteria“ haben schöne sprechende Namen. Ein Kulinarisches Institut, die Bio-Kooperative „Sommerfrische“, Copyshop Schöpfer, ein studentischer, alkoholfreier Rauschort namens Aromabar: Auch die Orte, an denen die Handlung spielt, sind ausgebufft. Ja, dem Autor Nickel, der bislang vor allem als Freund des berühmten Christian Kracht und als Journalist für Connaisseursprodukte bekannt war, gelingt auf den 240 Seiten seines Romandebüts vieles geradezu mustergültig — aber trotzdem kann „Hysteria“ nicht vollends überzeugen.
Ausgangspunkt der Handlung ist ein Wochenmarkt, auf dem der Hauptfigur Bergheim — ein gut gekleideter, kultivierter und nicht zuletzt hypersensibler Herr — die Himbeeren aus den kleinen gebundenen Körben nicht mehr recht schmecken wollen: Irgendwas stimmt mit ihnen nicht; ihre Farbe erscheint ihm geradezu „jenseitig“. Aber natürlich fühlt Bergheim sich nicht einfach nur als anspruchsvoller Verbraucher hintergangen, sondern wittert mehr als einen fiesen Verkaufstrick. Ein Verlust sinnlicher Erfahrung ist hier im Gang, der sich nicht mit einer schlechten Ernte oder schlechtem Düngemittel erklären lässt: Es geht nicht nur um Obst, sondern die Welt, wie wir sie (zu) kennen (meinen). Der Anfang des Romans, den Nickel beim Bachmannpreis 2017 vorlas, verspricht viel. Man merkt, dass in der sonnenbeschienen Bio-Society etwas ganz und gar nicht stimmen kann, etwa nach dem Besuch der Bio-Kooperative:
„Erst als er auf die Straße trat und geistesabwesend über den hohen Bordstein stolperte, was ihn unglücklich zu Fall brachte, bemerkte Bergheim, was anscheinend die ganze Zeit schon an seiner Sohle geklebt hatte: ein zerfaserter schwarzer Fellfetzen, aus dem eine mattgrau-gallertartige Substanz auf den frischen Teer quoll.“
Nickels Fähigkeit, eindringliche Bilder zu erzeugen, bizarre Orte zu erschaffen, sich in genaueste Beschreibungen kleiner, feiner Gegenstände zu vertiefen, steht außer Frage und beeindruckt stellenweise. Nach diesem bedrückenden Beginn landet Bergheim in einem grusligen kulinarischen Institut, wo er auf seine einstigen Kommilitonen der Kulinaristik trifft: Ansgar, inzwischen international renommierter Fruchtdetektiv und Charlotte, einstige Geliebte Bergheims. Schnell katapultiert der Erzähler seine Leser jedoch raus aus dem mysteriösen Ort und ersetzt die mulmige Stimmung der ersten Kapitel durch eine recht dröge Uni-Snob-Story. Ansgar, Bergheim und Charlotte studieren bei einem schrulligen Professor, kaufen bei einem schrulligen Buchhändler besondere Schmöker ein. Dabei kommt es zu allerlei Anspielungen des Autors auf Literatur, Kunst, Musik. Während Bergheim an den eigenen Unzulänglichkeiten im sogenannten Zwischenmenschlichen verzweifelt, gewinnt die Ideologie des „spurenlosen Lebens“ politisch immer mehr an Macht. Ihr Ziel ist es jedes Zeichen menschlicher Einwirkung auf Mutter Erde zu unterbinden. Ihr Schlachtruf: „Returanatura!“ Fleischverzehr ist verboten, Alkoholkonsum auch. Stattdessen macht man ekstatische Rauscherfahrungen mit olfaktorischen Hilfsmitteln in der Aromabar zweier ehemaliger Studenten der Lebensmittelchemie.
Diese Kapitel verenden leider allzu oft in lauen Selbstbespiegelungen, die noch am ehesten Lesern gefallen können, die sich gern identifizieren wollen. Vor allem aber gelingt es nicht wirklich, die politische und gesellschaftliche Dimension dieses „spurenlosen Lebens“ einzufangen. Das elegante Erzählen bedient sich auf dieser Ebene einem Hauruckverfahren. Kleinere Vorkommnisse einer Unistadt können die brisante Anlage des Romans nicht wirklich ausbauen: Im Nachhinein wirkt das Buch zu kurz oder zu lang.
Wenn der Autor dann die Campusjahre hinter sich lässt, nimmt „Hysteria“ dann abermals an Fahrt auf: Die dunklen Seiten des „spurenlosen Lebens“ werden drastischer dargestellt, die wahnsinnige Reinheit rückt einem immer mehr auf den Leib. Es gibt einen Showdown mit einer alten Liebe, die verzweifelt zur Herrin der Fliegen mutierte und ein Ende, das wie ein böser, nie enden wollender Traum anmutet. Nickel gelingen dichte, dramatisch klug zugespitzte Szenen.
Aber die Ökowahndystopie, in der sich die Selbsttilgung der Menschen für ein besseres Gewissen ankündigt, leidet an seinem Inventar der Ein- und Übergeschnappten: Es ist nicht wirklich welthaltig, wenn mittelsympathischen Snobs die antrainierte sinnliche Erfahrung abhandenkommt, sondern eher eine Befindlichkeit. Dass sehr unsympathische Musterschüler in Politik und Wissenschaft seit längerem drauf und dran sind, jeden Genuss dafür zu verdammen, sich besser selbst zu optimieren, lässt sich gut darlegen. Nickels Roman hat ein wichtiges Thema, kann literarisch oft überzeugen, aber über den Standpunkt eines gekränkten Kenners wächst „Hysteria“ selten hinaus.
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