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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Gott tut mir leid

Hamburg

Nach dem Erfolg seines buchpreisgekrönten Romans „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ mag Frank Witzel sich gedacht haben, ohne Probleme mit einer 550 Seiten starken Zumutung durchzukommen, die nicht nur hier und da mit der Lesererwartung spielt, sondern diese komplett durchkreuzt. Wie kritisch das neue Werk nun aufgenommen wird, damit hätten vermutlich weder der Autor noch sein Verlag gerechnet. Ohne Makel ist „Direkt danach und kurz davor“ in der Tat nicht; dafür besticht das schillernde, überbordende Ungetüm von einem Buch durch seinen Fantasiereichtum und seine Assoziationsvielfalt, vor allem aber durch eine Kompromisslosigkeit, die man in der deutschsprachigen Literatur nur (noch) selten findet. Und ist gerade darum, so würde ich argumentieren, um Längen lesenswerter als der – vergleichsweise gefällige – Vorgänger.

Anstatt mit greifbaren Figuren oder einem stringenten Plot ködert uns der Autor zunächst mit einer ungeheuer dichten und zumindest teilweise realistischen Nachkriegsatmosphäre, die uns, auch wenn wir sie nicht mehr selbst erlebt haben, unheimlich vertraut erscheint: Beschädigungen prägen die Stadt und die Körper, die sich in ihr bewegen. Amerikanische G.I.s verteilen Drops („Dieser Geschmack war der Triumph der Auflösung, die Aura des Vergehens“) und führen reedukative Marionettenspiele auf. Die Kinder wiederholen, worüber nicht gesprochen werden darf, in ihren eigenen, grausamen Spielen. Sie improvisieren Exorzismen an einer Schulkameradin, die sich für Satan hält, basteln Ohrringe aus Zähnen und lackieren sich die Nägel mit Dackelblut, während ihre Väter zu Hause auf dem Sofa liegen wie Leichen, die einfach nicht verwesen. Alles durchdringt ein lähmendes Schweigen, das der Autor (Jahrgang 1955) zwar selbst nicht mehr bewusst erlebte, und das doch seine Generation und die folgenden nachhaltig geprägt hat. Vielleicht auch deshalb ist „Direkt danach und kurz davor“ ein Buch der Fragen. Und seien es rhetorische. „War die Aufforderung, an einer neuen Ordnung mitzuarbeiten, nicht eine Unverschämtheit, nachdem Ordnung Synonym geworden war für Vernichtung, für Anmaßung, für Willkür und Chaos?“ ist auch eine wütende Anklage gegen den Mythos der „Stunde Null“ – zumal beständig durcheinander geht, was nun die „neue“, was die „alte“ Ordnung darstellt.

Woran wir uns festhalten können, ist einzig Siebert, der am Fenster steht und auf die Straße blickt, während seine Frau Marga hinter ihm am Küchentisch sitzt. Doch auch dieser Refrain zerfällt schon bald in seine Einzelteile. Siebert sieht auf der Straße einen Toten liegen, heißt es. Woraufhin sich ein Uniformierter zu ihm umdreht und auf ihn schießt, jedoch Marga tödlich trifft. Spätestens zu diesem Zeitpunkt driftet alles ins Ungewisse. Hat nicht vielmehr Siebert Marga erschossen? Oder handelt es sich bei der vorherigen Szene um eine Deckerinnerung, die Siebert über Margas Selbstmord gelegt hat? Oder ist gar Siebert der Tote, der auf der Straße liegt? „Siebert“, so müssen wir erkennen, ist nicht viel mehr als der wandelfähige Jedermann/Niemand „otto“ aus Elfriede Jelineks „wir sind lockvögel baby!“ Er ist, so kann man es wohl zusammenfassen, der kollektiv Gedächtnislose, der sich nach einem traumatischen Erlebnis (codiert als „Eisenbahnunglück“) nur noch lückenhaft erinnert, und schon allein deshalb einer in sich geschlossenen Identität entbehrt. „Meine Existenz beruht auf einer Lücke“, wird er zu einem späteren Zeitpunkt sagen – und rückt sich damit zugleich in die Nähe des Göttlichen. Wohl nicht zufällig arbeitet Siebert an einer neuen Existenzphilosophie, betitelt „postmortale Theorie“ – vielleicht, weil er längst tot ist und dies nur noch nicht begriffen hat? Was Marga angeht, so ironisiert Witzel den altbekannten Imperativ „Cherchez la femme!“ bis zur Unkenntlichkeit. War sie Krankenschwester, Sekretärin, Fremdenführerin, trauernde Soldatenwitwe? Oder gar nur ein Symbol? „Manche sagen, Marga habe nie existiert, sondern sei eine Personifizierung des Brandes, der zwei Nächte nach dem Attentat ausgebrochen sei.“ Das Wie und Warum dieses „Attentats“ bleibt im Nebulösen – und entfaltet gerade dadurch, darin liegt das Genie des Buches, eine immense Kraft, die an monolithische, mythenumrankte Begriffe wie „R.A.F.“ oder „Faschismus“ heranreicht.

Alle Figuren, die uns in „Direkt danach und kurz davor“ begegnen, führen Mehrfachexistenzen, verlieren sich letztendlich in einem schier endlosen Mise en abyme. So erstellt Witzel eine Liste fiktiver Nachkriegsautoren, in deren Werken wiederum Marga und Siebert in Erscheinung treten; Filme, Kunstwerke, sogar Träume werden gedeutet und ergeben zusammen ein Kaleidoskop kollektiven (Fehl-)Erinnerns. „Alles erinnert immer an etwas anderes, nie an sich selbst“ könnte durchaus als Motto des Buches herhalten.

Doch packt Witzel seine Leser_innen immer wieder auch bei ihrer Sehnsucht nach Kohärenz. Erklärungsansätze durchziehen das Buch, Versuche, den Leerstellen und Ungereimtheiten psychoanalytisch auf den Grund zu gehen, sie im Symbolischen aufzulösen oder mythologisch herzuleiten – nur um den gerade gestifteten Sinn flugs wieder zu verwerfen. Was eben noch als mögliche Wahrheit galt, wird gleich darauf jenen „Gemeinplätzen“ zugerechnet, mit denen sich der Erinnerungslose behilft, der „permanenten Ablenkung“ vom eigentlichen Schmerzpunkt. Ob wir es mit einer Allegorie auf die kollektive Verdrängung – wie sie beispielsweise Hannah Arendt in ihrem Essay „Besuch in Deutschland“ so treffend diagnostizierte – oder aber mit einem privaten Trauma nach dem Muster abgründiger Psychothriller wie „Lost Highway“ oder „Stay“ zu tun haben, lässt Witzel offen.

Seine Protagonisten leiden an Krankheiten wie dem „Alltägliche Irrgehen“, finden das „Bluttuch“ eines abgestürzten Piloten, dem magische Kräfte zugesprochen werden, oder gründen eine „Gesellschaft für neuen Magnetismus“, deren Existenz gleich darauf dementiert wird. Es gibt ein „Museum für Körperteilopferungen“, in dessen Hinterzimmern der „alte Siebert“ (Sieberts Vater?) an einer „Weltmechanik“ bastelt; Überlebende des „Eisenbahnunglücks“ streifen als gedächtnislose Zombies durch die Straße, während sich anderswo der „Sportverein Südstadt“ formiert, um den Geistern der Vergangenheit Einhalt zu gebieten. Das ist so abstrus, denkt man des Öfteren, dass es schon wieder wahr sein muss. Mal verstörend, mal hochkomisch lässt Witzel Mystik und Hyperrealismus, Banales und Pathetisches ineinander krachen wie entgleiste Hochgeschwindigkeitszüge. Und zeichnet dabei die Vision einer zukünftigen Apokalypse, die zugleich auf eine sehr reale Vergangenheit verweist. So findet das wiederkehrende Motiv der medizinischen Experimente Anleihen in einem verblendeten New-Age-Spiritualismus ebenso wie in den Menschenversuchen des Dritten Reichs: Grotesk überzeichnet natürlich, die pornographisch angehauchten Vermessungen von Knabenpenissen, der Organhandel zur Herstellung von Gelatine – doch steht die Realität, wenn man es recht bedenkt, in ihrer Grausamkeit und Sinnlosigkeit der Fiktion in nichts nach.

Mal fühlt man sich beim Lesen wie ein Kind, das sich mittels Fantasie und Erzählungsbruchstücken einen Reim auf die absurden Riten der Erwachsenen, auf die überall sichtbare, aber nicht besprochene Zerstörung zu machen versucht. Mal wie ein Träumender, der sich durch Fragmente aus Tagesresten und zensiertem Wissen durch die eigene Psyche tastet. Mit beklemmender Präzision zeichnet Witzel nach, wie sich bestimmte Bilder, ob wahr oder falsch, im kollektiven Gedächtnis festigen, einzig durch deren beständige Wiederholung. Und übersetzt zugleich die Mechanismen individueller Schmerzbewältigung in einen sich überlagernden, immer wieder selbst hinterfragenden Stimmenchor. Existenzielle Problemstellungen kommen dabei aus den Mündern gar nicht so unschuldiger Kinder: „Meint ihr, dass es Gott tröstet, wenn wir an ihn glauben, weil er selbst niemanden hat, an den er glauben kann?“

Woran wir glauben – wir Leser, Identitätsstifter, Erzähler des eigenen Ich – verdeutlicht Witzel, als er die „Weltmechanik“ erklärt. Eine gesellschaftliche Vereinbarung sei sie, deren höchstes Ziel darin besteht, das Narrativ nicht ins Stocken geraten zu lassen. Witzels kategorische Antwort darauf: „Wir müssen das Unschlüssige suchen.“ Die „Weltmechanik“, nun, nicht eben zu suspendieren, aber zumindest ihr Innerstes offenzulegen – das ist ihm in „Direkt danach und kurz davor“ auf verblüffende, stellenweise kaum erträgliche Weise gelungen.

Frank Witzel
Direkt danach und kurz davor
Matthes & Seitz
2017 · 552 Seiten · 25,00 Euro
ISBN:
978-3-95757-477-0

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