Von Romantik keine Spur
In dem Woody Allen Film „Midnight in Paris“ von 2011 begibt sich der Protagonist nach Einbruch der Dunkelheit auf eine Zeitreise in das Paris der 1920er Jahre. Dort begegnet ihm genau jene Welt, die er sich immer erträumt hatte: Er feiert rauschende Feste mit F. Scott Fitzgerald, Jean Cocteau und Ernest Hemingway; er trifft Pablo Picasso und flirtet mit dessen Geliebter; und der diskutiert mit den Surrealisten über deren Vorstellungen von Leben und Kunst. Mit der Zeit bemerkt er jedoch, dass auch seine vielbewunderten Idole ganz eigenen Vorstellungen und Projektionen von einer noch goldeneren Vergangenheit anhängen, was ihn nachdenklich stimmt. Vor die Wahl gestellt, entscheidet er sich schließlich für ein Leben im Hier und Jetzt.
Gaito Gasdanows 1925 im russischen Original erschienener Roman, der unter dem Titel „Nächtliche Wege“ und übersetzt von Christiane Körner nun erstmals auf Deutsch vorliegt, ist das unromantische Gegenstück zur weitverbreiteten Verklärung der 1920er Jahre. Und anders als Woody Allen kann sich Gasdanow dabei auf eigene Erfahrungen und Erlebnisse berufen. Schließlich lebte er, wie viele seiner russischen Landsleute, die vor der Revolution in ihrer Heimat geflohen waren, seit 1923 in Paris, wo er unter anderem als Lokomotivenwäscher bei Citroën und etliche Jahre auch als Nachtaxifahrer schuftete.
Aus dieser Zeit berichtet der namenlose russische Ich-Erzähler des Buches; und über all jene „Verrückte – meistens Leute kurz vor der Einlieferung in die Irrenanstalt oder das Krankenhaus, Alkoholiker und Clochards“ –, die ihm dabei Nacht für Nacht auf den Straßen und Boulevards von Paris begegnet sind. Er hat den Eindruck, in einem gigantischen Labor zu leben, „wo das Schicksal voller Häme Schönheiten in Greisinnen, Reiche in Arme, ehrenhafte Menschen in berufsmäßige Bettler verwandelte – und das mit erstaunlicher, unglaublicher Perfektion.“
So erfährt man etwa aus dem Leben der Jeanne Raldy, die einst in jungen Jahren die Geliebte des Herzogs von Orléans und des griechischen Königs war, Amerika, Russland und England bereist sowie Schlösser und Villen bewohnt hatte. Mittlerweile, alt, arm und elend, verdingt sie sich als Prostituierte und versucht ihre jungen und noch schönen Kolleginnen an frühere Kontakte zu vermitteln, in der – meist vergeblichen – Hoffnung, dass dabei ein Stück Dankbarkeit auch auf sie abfällt. Unter den Chauffeuren ist Raldy eine Institution; jeder kennt sie und ihre Geschichten.
Oder von dem „adretten grauhaarigen Greis“, einem Notar aus einem Vorort, der einmal im Jahr in die Stadt kommt, um eine „Tournée des grands ducs“ zu absolvieren, bei der er sich in einer Nacht von Bordell zu Bordell kutschieren lässt. Am Morgen ist er ein Vermögen ärmer und muss vom Erzähler und einem Polizisten in sein Hotel getragen werden, wobei ihm auch noch die letzten 200 Francs aus der Tasche gezogen werden. Davon abhalten, im darauffolgenden Jahr die Tour erneut anzutreten, wird ihn das freilich nicht.
Aus den zahlreichen kleineren und größeren Anekdoten des Buches entwickelt sich mit der Zeit ein Panorama der Pariser Halbwelt der 1920er Jahre, in dem die einzelnen Geschichte über zahlreiche Querverbindungen zwischen den Personen zu einem lesenswerten Ganzen verwoben werden. Spießige Büroangestellte, phlegmatische Arbeiter, philosophierende Clochards, junge und alte Dirnen, sie alle treibt es Nacht für Nacht auf die verdreckten und stinkenden Straßen rund um den Bois de Boulogne, angetrieben von der Sehnsucht nach einem Stückchen Glück oder schlicht blanker Not.
All dies schildert Gasdanow in einer Mischung aus Ekel, Abwendung und voyeuristischer Neugier. Die Bilder und Geschichten, die er nachts in sich aufnimmt, bringt er tagsüber zu Papier. Obwohl er sie verachtet, scheinen ihm seine Gefährten dennoch zugetan; sie gewähren Einblicke in ihr Leben und ihre Geheimnisse – und vertrauen darauf, dass er, der stille Beobachter, sie nicht verrät.
Mit „Nächtliche Wege“ setzte der Hanser Verlag die Wiederentdeckung des großen Schriftstellers Gaito Gasdanow, der 1971 in München gestorben ist und in Paris begraben liegt, ebenso konsequent wie überzeugend fort. Und die gute Nachricht ist: Es warten noch zahlreiche weitere Bücher aus der Feder Gasdanows darauf, erstmalig aus dem Russischen ins Deutsche übertragen zu werden.
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