Spurlos verschwunden
Wer ist Ibrahim? Der junge Mann ist spurlos verschwunden. Eine Journalistin will ihn finden – oder zumindest herausfinden, ob er noch lebt. Sie spricht mit seinen Eltern, Freunden, Weggefährten, und die Suche führt sie quer durch die Türkei, von Iskenderun bis Istanbul. Und mit jedem Interview scheint sie sich weiter von ihrem Ziel zu entfernen. Denn zwar gibt es einige Überschneidungen und Spuren. Aber im Grunde scheint jeder, den sie befragt, einen anderen Ibrahim gekannt zu haben. Nur eines wissen sie alle: Ibrahim war ein seltsamer Typ. Er spürte keinen Schmerz.
(c) Manuel Çıtak In dem ursprünglich 2004 erschienenen Debütroman der Istanbuler Autorin Gaye Boralıoğlu, der nun erstmals auf Deutsch vorliegt, geht es um die elementare Frage, was einen Menschen ausmacht und was ihn prägt. Aber nicht aus der eigenen Perspektive, sondern aus dem Blick jener Menschen, denen man begegnet. In welchem Lebensabschnitt lernt man sich kennen, in welchem Augenblick? In welcher Stimmung? Wie beeinflusst unser Selbstbild das Bild, das wir uns von anderen machen?
Da sind Ibrahims überbehütende Mutter und sein cholerischer, gewalttätiger Vater. Da ist Ibrahims große Liebe Rüya, aber auch einer wie Sadik Usta, der Ibrahim nur flüchtig kannte, als dieser in Ustas Hotel wohnte. Osman, der Badediener eines Istanbuler Hamams, das Ibrahim besuchte, erinnert sich an den Jungen, der bei 45 Grad auf dem heißen Stein lag, und der immer mit blauem Auge kam. Aber stimmt das so? Oder übertreibt Osman? Und empfand Ibrahim für Rüya wirklich dasselbe wie sie für ihn? Oder verklärt sie die Vergangenheit, indem sie sie erzählt? War Ibrahim wirklich völlig gleichgültig und kalt? Oder nur introvertiert? Hatte er braune oder blaue Augen? War er schmächtig und klein oder stattlich? Kommt drauf an, wenn man fragt.
Der Roman besteht einzig aus den Stimmen jener, die über Ibrahim sprechen. Und viele sprechen ohne es zu merken, in erster Linie über sich selbst, Ibrahim ist ihr Aufhänger, um die eigene Geschichte loszuwerden. Dass es Gaye Boralıoğlu gelingt, jeder dieser Figuren einen eigenen, markanten und einprägsamen Ton zu geben, eine individuelle Stimme, ist nur eine der Stärken dieses faszinierenden und ambitionierten Debüts. Der Roman ist zugleich eine schonungslose Reise durch die Untiefen der türkischen Gesellschaft, hinein in die Armut der städtischen Arbeiterklasse und in Familien, in denen die Gewalt so beiläufig regiert wie der Fernseher, der im Hintergrund Gameshows neben religiösen Predigten zeigt.
Begleitet wird der Text von Bildern des armenischen Fotografen Manuel Çıtak, der die fiktiven Figuren visualisiert. Bilder und Erzählung durchdringen und ergänzen einander, und auch das letzte Wort des Romans ist ein Foto. Der letzte Satz, das letzte Rätsel.
„Der Fall Ibrahim“ ist nach „Der hinkende Rhythmus“ und „Die Frauen von Istanbul“ das dritte Buch von Gaye Boralıoğlu, das hierzulande erscheint. Und wer es liest, versteht rasch, weshalb die Autorin in der Türkei so gefeiert und immer wieder mit Literaturpreisen ausgezeichnet wird. Schon in ihrem ersten Roman etabliert sich eine starke eigene Stimme und meistert mühelos das Kunststück, ihre Geschichte in einer experimentellen, höchst anspruchsvollen Form so zu erzählen, dass sie für den Leser flüssig und eingängig ist, dass man sich in ihr verliert und am Ende das Gefühl hat, selbst diese Reise unternommen, diesen Menschen gelauscht zu haben.
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