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Kritik

Wesenskern, Echtlinge, Spielzeug

Hamburg

Sogar in meiner Jugend scheine ich nach Belegen dafür gesucht zu haben, dass der Geist ein Ort ist, auf den man von Grenzbezirken aus den besten Blick hat.

schreibt Gerald Murnane, australischer Klassiker, in diesem erst seinem zweiten auf Deutsch veröffentlichten Roman Grenzgebiete. Ist es ein Roman? Ist es ein Bericht? Es ist hochkalkulierte Prosa. Existenziell und von beinahe extremer Sprachskepsis durchzogen, so als traute dieser Autor, irgendwo aus den "inneren, südlichen Vororten der Hauptstadt" gezogen in andere "äußere, östliche Vororte der Hauptstadt" ihr keinen Wegbreit. Als stetiger Strom von Versicherung und Bekenntnis schreibt sich der Erzähler durch prägende Erinnerungen/ Erinnerungsbilder. Wie die Lektüren, die Glasfenster einer Kirche, die beginnende und vollzogene Säkularisierung seiner Erziehung, das Verhältnis zwischen Fiktion und Bild.

Ich schreibe kein fiktionales Werk, sondern einen Bericht über scheinbar fiktionale Stoffe.

In Gegenwart anderer, selbst wenn es vermutete Personen sind, deren Stimmen mich nur durch mein Radio oder Telefon erreichen, denke und empfinde ich auf höchst konventionelle Weise. Wenn ich jedoch allein an meinem Schreibtisch sitze und insbesondere, wenn ich einen Bericht wie diesen schreibe, werde ich das, was viele als einen Exzentriker oder Sonderling bezeichnen würden.

In einer fast primitiv heruntergebrochenen Prosa kann Murnane erstaunliche Dichte erzeugen, gleißt es vor Klarheit. Das Gekünstelte wird ebenso gescheut wie das erzählerisch einem Narrativ verhaftete. Und obwohl der Erzähler tatsächlich einem Sonderling, einem antiker Überlieferung und Medien vertrauenden Zeitgenossen gleicht, dem man ungern einen Witz zu erzählen sich trauen würde, genügen winzige Andeutungen, dass hier Behutsamkeit, Tiefe und Wahl am Werk sind. Sich nach ihren eigenen Regeln entfalten. Das zunächst überraschend erscheinen mögende Ende ist in Wirklichkeit ein dynamischer Schlusspunkt, sorgsam und klug ausgeleuchtet.

Ich gab die Lektüre des Buches auf, da es über weite Strecken wenig Bedeutung für mich hatte. Solche Passagen taten so, als beschrieben sie den Geisteszustand des Autors in Zeiten starker Empfindung oder Bewusstheit, doch beschrieben sie nichts von dem, was ich geistige Bildwelt nenne. Ich erfuhr früh in meinem Leben, dass ich außerstande bin, die Sprache der Abstraktionen zu begreifen; für mich ist ein Geisteszustand ohne Bezug auf Bilder unbegreiflich.

Durch den Verkauf meiner Bücher erklärte ich, dass ich alles, was ich von ihnen je benötigte, bekommen hätte. Ich hätte daher auch keine Veranlassung, durch irgendeine Biografie irgendeines Verfasser fiktionaler Werke zurückzublicken und nach irgendeiner Beschreibung irgendeines Bildes zu suchen, das er beim Schreiben im Sinn behalten würde [...] um nicht etwas auszulöschen [...] die Bestätigung von etwas, das ich schon seit Langem gewünscht hatte zu glauben, nämlich, dass meine Vorstellung die Quelle nicht nur meiner Bedürfnisse und Wünsche war, sondern auch der sie besänftigenden Bilderwelt.

Anscheinend war Folgendes geschehen: Sobald ich mit der Lektüre der ausführlichen Schilderung begonnen und, durch den ersten Satz oder durch einen Blick auf den Text vor mir erfahren hatte, um was sich die Schilderung drehte, war mir eine bestimmte Bild-Landschaft erschienen. Diese Bild-Landschaft blieb fast unverändert in meiner Vorstellung, während ich die gesamte Schilderung las.

Murnanes Landschaften, die beim Lesen seiner Grenzgebiete entstehen, sind enigmatisch. Dennoch sind sie hier, nicht unbewohnt und man kann sie sich vorstellen. Australisches Grasland, Nachbarschaft, einzelne Häuser, Zäune. Wer aber ist dieser Erzähler? Was ist das für ein unendlicher Brunnen? Die Pferderennen, der Erzählzwang beim ersten Date, das beiläufig eingestreute "als ich einen Abend betrunken nach Hause kam"? Hier ist das, was man seit Jahren landläufig vermutlich spektakulär erzählen würde, einfach weg, ausgelassen in völliger Selbstverständlichkeit. Ein selten gewordenes Stück Outback-Getippe ist Grenzgebiete, mit nichts vergleichbar, (auch wenn Murnane vielleicht Cormac McCarthy nicht vom Teetisch stoße würde). Es scheint hier eine unglaublich spannende, knappredende Stimme ihrer (deutschübersetzten) Entdeckung zu harren. Superbes Lese-Territorium.

Gerald Murnane
Grenzgebiete
Übersetzung:
Rainer G. Schmidt
Suhrkamp
2018 · 231 Seiten · 18,00 Euro
ISBN:
978-3-518-22507-3

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