"(Zusammendrehen mehrerer Fäden)"
Beim Passagen-Verlag ist Anfang des Jahres unter dem Titel "zwirnen" ein Text von Gertrude Maria Grossegger erschienen, den wir ungefähr einen Gesang werden nennen dürfen, oder ein Epos, oder, wohl am passendsten: ein grob 150-seitiges Garn, gegliedert in ca. zwanzig- bis ca. hundertzwanzigzeilige Abschnitte. Der Klappentext (bzw. die Seite mit den Auskünften zur Person, die bei einem Hardcover die Innenklappe wäre, und die sich hier auf Druckseite drei befinden) erklärt das Unterfangen:
Vom ursprünglichen Wortsinn des Wortes "zwirnen" (das Zusammendrehen mehrerer Fäden) ausgehend, werden unterschiedliche Bewusstseinsebenen, fassbare äußere und traumhafte innere Bilder, miteinander verzwirnt.
Aha. Eine nicht neue, aber doch entlegene Generalmetapher für das Verhältnis Ich-Welt-Sprache; zu Grunde gelegt einer nicht neuen, aber doch eher entlegenen Textform … Wie sieht das dann in der Praxis aus, fragen wir uns; denn wir fürchten natürlich sprachlich Entlegen=Verstiegenes – doch zum Glück, wie der Text uns sofort klar macht, unbegründet …
ohne ihr ich geht sie
spult alles zwirnmäßig herunter und wickelt die fäden wieder auf
wie gelernt ohne zu verknoten spult sich der faden herunter
reißt nicht geht auch nicht verlorenes soll sich so abspielen.
als ob es in echt wäre ich werde sie begleiten
dann wird sie mir immer nahe sein
wenn ich ganz an ihrer seite und ganz bei ihr bin
das müsste gehen denke ich sie kommt mir zuvor
sagt sie brauche das jetzt dass sie jemand begleite
der ihr auf der spur sei
(…)
Soweit der Anfang des Garns. Kein sprachliches Schöntun, nichts Aufgesetztes, gleichwohl ist das Gebilde fundiert im Interesse an sprachlichen Methoden von Innenschau – und an den Effekten, die diese Methoden auf das Ergebnis solcher Innenschau haben.
Grosseggers Garn gehört zur spezifisch österreichischen Literatur in doppelter Hinsicht: Da ist erstens der Blick auf die Frau als auf den Frauenkörper, der sich gesellschaftlich als Empfindungsbündel verselbständigt, eine Selbst-Distanzierung, die sich im wiederholten Wechsel zwischen der ersten und der dritten Person Singular verstetigt und, paradox, zur Selbst-Setzung des Textsubjekts wird. Zweitens macht Grossegger eine Schreibweise und Weltleseweise exemplarisch vor, die für die deutschsprachige Welt am besten aufgehoben ist in einer Literatur, die – gesprochen mit W. Schmidt-Dengler – "das Gebet in die Sprache nimmt". Will sagen: Nicht die Kunstsprache wird an außerkünstlerischen ethischen Erfordernissen gemessen, sondern umgekehrt das Außerkünstlerische an seiner, sagen wir, Eleganz. Die Sprache verrichtet dieses in Automatismen, die sie generiert, da sie die Form der Litanei, der Aufzählung, des Zauberspruchs, der blanken Setzung auf eine Gegenwart anwendet, die "weiter" wäre. (Wir reden offensichtlich von Aspekten einer Gegenwartsliteratur, die vordem zugleich prinzipiell verständliche Unterhaltungskunst sein wollte und dabei aber nicht mehrheitsfähig sein musste; die vor zweidrei Generationen in einem repressiv katholischen Land entstand und sich der (dort) befreiend-allgemeinverständlichen Stilmittel der katholischen Liturgie bedienen musste/konnte … Dieser Abgrund schreibt sich bei Grossegger ("von selbst") fort: wenn die potentielle Fremdbestimmung durch Männerkörperpräsenz im Abstand von zwei Seiten so verschiedene Formen annimmt wie die beispielsweise Agrarische –
die kuh kalbt.
und unruhe herrscht im stall
vater hat ein gutes ohr für die tiere oft steht er auf in der nacht
–, pseudo-sciencefiction –
und keine brille der welt kann ihr diesen blick verstellen
(…)
und der flashreporter redet schneller als ein hirn denken kann
und es geht sich mit ihrem hirn nicht aus
dass ihr hirn mit seinm hirn mitkommt
und die Karikatur der (s.o.) Traditionswelt –
sie muss hinschauen obwohl es ihr graust
wenn der schuldirektor bei ihrer mutter in der küche sitzt
und die frischen krapfen verschlingt
Das Narrativ bleibt bei Grossegger jedenfalls an das wesentliche Morphem von "erZÄHLen" gebunden; die Sprache an den Alltag; und die Fäden ihres Epos, wie das Ganze an eine halbmündliche Text-Tradition, aneinander.
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