Hexen, Jauche, Klimawandel
Mit dem Lernen des Lesens und Schreibens fängt alles an. Skalde lernt es von ihrer Mutter Edith. Sie lernt einzelne Wörter. HAUS. HUND. WALD. Später die Namen der Pflanzen. Später schreibt sie ganze Sätze. Sehr viel später wird sie aus ihren Notizen einen Bericht schreiben, der diesen Roman bildet. Die implizite Schreibszene, die am Anfang des Romans steht, liegt weit nach diesen Ereignissen.
„Nachts finde ich keinen Schlaf. Ich habe mich deshalb entschlossen, mit meinem Bericht zu beginnen. Die Beschäftigung soll mir die dunklen Stunden füllen.“
Es ist eine dystopische Gegend par excellence. Der Klimawandel ist in vollem Gange, die Hitze verbrennt die Landschaft, die Tiere verenden, die Möwen stürzen verkohlt vom Himmel. Darin eine verstreute Sammlung weniger Menschen, die sich hier ihr Leben eingerichtet haben, von alten Konserven, Früchten und Fleisch leben – abgeschottet vom Rest der Welt. Die Brücke über den Fluss haben sie gesprengt, aus Angst vor den kranken Rehen und Wildschweinen, die vom Meer her flüchten, aus Angst vor den Fremden. Skalde lebt mit ihrer Mutter Edith und zwei Doggen auf einem Grundstück mit Haus und Garten, das sie ihre ersten Jahre über nicht verlässt. Edith ist als junge Frau über den Fluss gekommen und bekam dann ein Kind, das sie ohne den Vater großzog. Anfangs kümmert sie sich um ihre Tochter, als Skalde ihren ersten Milchzahn verliert, wendet sie sich von ihr ab, verkriecht sich im Schrank und isst kaum mehr etwas. Das Haus wirkt verwahrlost, überall liegen Dinge herum und im Garten setzt Skalde Brennnesseljauche als Dünger für die vertrocknenden Pflanzen an. Einige Jahre später taucht plötzlich ein Mädchen mit roten Haaren auf und Skalde nimmt sie bei sich auf. Von den anderen Bewohnern wird das Mädchen Meisis abgelehnt und bedroht. Das Misstrauen, das die Anderen gegen die Andere hegen, ist von einer pauschalen Ablehnung getragen, die sich gegen alles wendet, das die gewohnten Verhältnisse verschiebt. Die unwillkürliche Angst vor dem Fremden verselbständigt sich zu einer bedrohlichen Dynamik, die sich immer mehr zuspitzt.
Inszeniert werden die Ereignisse auf 220 Seiten in 77 kleinen Kapiteln. Edith trägt trotz der Hitze ihre selbstgenähten Kaninchenmäntel, die Fenster sind mit Schuhcreme geschwärzt, die Bäume tragen kaum mehr Früchte. Das viele Schwarz im Haus hat was von zur Schau gestellter Schauerlichkeit. Kadaver, Insekten, viele Brennnesseln, Wurzeln zum Frühstück, gewaltbereite Männer. Es ist ein märchenhaftes Setting mit wiedererkennbaren Motiven, in dem Helene Bukowski ihre Geschichte ausbreitet. Und das funktioniert erst mal sehr gut: Die meisten Dinge geschehen einfach, ohne viel Erklärung und haben so zunächst eine Art poetische Eigendynamik, die neugierig macht; aber bald wird dieses Setting allzu banal und klischeebeladen.
Das Mädchen Meisis hat rotes Haar und wird von den Bewohnern der Gegend als „Wechselbalg“ abgelehnt und stigmatisiert. Die Anlehnung an einen mittelalterlichen Hexenmythos wird hier geradezu provoziert. Die Milchzähne werden schließlich das zentrale Motiv für das Andere: Edith, die sich auch mit Kleidung, Schmuck und Lippenstift von den anderen abhebt, hat nie ihre Milchzähne verloren und ist damit auf ewig als Fremde gekennzeichnet. Ihre Tochter Skalde, die in der Gegend aufgewachsen ist und sie als ihr zu Hause begreift, hat ihre Milchzähne verloren und wurde daraufhin von ihrer Mutter abgelehnt, lebt aber immer noch bei ihr. Sie fungiert im Zwiespalt zwischen Gesellschaft und Außenseitern. Und auch Meisis‘ Zähne beginnen nicht zu wackeln – was sie wiederum für Edith interessant macht, die sich mit ihr verbündet.
Dass Bukowski diesen märchenhaften Hexencharakter auf Edith und Meisis überträgt, verleiht dem Szenario eine subtile Aktualität: Die unbegründete Angst vor einem eigentlich harmlosen Element, das von außen überhöht stilisiert und so zum Sündenbock einer ganzen Gesellschaft wird, inszeniert dieser Roman in ganzer Breite.
Die Verknüpfung von mittelalterlichem Mythos, aktueller gesellschaftlicher Debatte und düsterer Zukunftsvision bildet die Grundlage für den Roman. Diese ist durchaus eine spannende Ausgangsidee. Sie erinnert an viele Vorlagen, nicht zuletzt an Marlen Haushofers „Die Wand“, welcher sich Bukowski bereits mit der ersten Seite implizit verpflichtet. Dass der Text diesen hoch gesteckten Ansprüchen jedoch in einigen Punkten nicht gerecht werden kann, ist schade, aber durchaus abzusehen. Die Sprache ist im guten Sinne einfach und klar, aber oft floskelhaft und naheliegend (es passiert nicht selten, dass jemand „auf dem Absatz kehrt mach“ oder ihm etwas „ins Gesicht geschrieben steht“). Die heraufbeschworenen Bilder der kargen Gegend sind angelehnt an bekannte Motivvorlagen dystopischer Landschaft und als künstlich erzeugte Atmosphäre einfach zu durchschauen. Poetisch wird es in den kurzen Einsprengseln aus Skaldes Notizen, die ruhig prominenter hätten gesetzt werden können. So fungieren sie lediglich als Alibi für den „Bericht“, der aus ihnen schließlich angefertigt werden soll. Verhandelt werden hier Träume und Reflektionen, oft übertragen auf eine metaphorische Ebene. Und auch hier schleichen sich schiefe Bilder ein:
„ICH HABE VON UNSICHTBAREN HUNDEN GETRÄUMT, DEREN BELLEN IM WALD VERHALLTE. MEINE HÄNDE WAREN ZU FÄUSTEN GEBALLT, ABER ICH WUSSTE, ICH KANN SIE NICHT ÖFFNEN, DENN ZWISCHEN DEN FINGERN HIELT ICH INSEKTEN, DIE ZUCKTEN UND FLÜCHTEN WOLLTEN.“
– was kann denn da bei geballten Fäusten noch zucken?
Helene Bukowski präsentiert ein modernes Märchen mit Klimawandel, Existenzangst und Ablehnung eines Fremden als mythische Zukunftsvision. Ihr gelingt es, gesellschaftlich virulent und historisch übergreifend zu schreiben, ohne allzu direkt gesellschaftskritisch zu sein. Allerding schlagen die Potenziale, die durchaus angelegt sind, in eine bekannte Tradition behaglicher Dystopie aus. Das mag für viele funktionieren – die großen Feuilletons haben den Roman bereits hoch gelobt –, doch bei genauerem Hinsehen verspielt er viele Stärken aufgrund allzu einfacher sprachlicher und motivischer Strukturen. Ein wenig mehr literarischer Eigensinn hätten dieses Debüt um einiges anspruchsvoller, interessanter und darum lesenswerter gemacht.
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