„Die Welt existiert nur dann, wenn sie auf der Kippe steht“
Die Ungewaschenheit dieser Gegenbewegung deprimierte Maria schon als Kind, weshalb sie sich gegen die Hippieideologie, gegen Dirty Dancing, gegen Stirnbänder und für Punk entschied. Der wurde in ihrem Dorf von Ärztesöhnen mit Nickipullovern repräsentiert und war genauso tot wie Euripides. Die Ärztesöhne hatten Geld. Sie rochen gut.
Es ist ein bisschen schwer in Helene Hegemanns neuen Roman hineinzukommen: am Anfang wirkt alles etwas unsortiert und chaotisch. Lebensgeschichten werden umkreist, es gibt einige Zeitsprünge und man weiß noch nicht, ob manche Stellen ein Rückblick sind oder andere Stellen ein Vorausblick und wie es dazu kommt, dass die vorgestellten Personen aufeinandertreffen. Schließlich kommt man aber an, in einem Viertel, in einer Geschichte, bei einem 13jährigen Mädchen.
Charlie lebt in einer Wohnung, von dessen Balkon aus sie auf einige schicke Bungalows blicken kann; ihre Nachbarschaft wirkt wie eine Miniaturversion der modernen Großstädte: Tür an Tür leben hier erfolgreiche Menschen und Menschen am Existenzminimum, Idyllen und Desaster. Charlie selbst lebt im Desaster, denn ihre Mutter ist Alkoholikerin, hat regelmäßig furchterregende Anfälle und Aussetzer und verbringt die Tage meist im Bett oder am Tisch mit ein oder zwei Weinflaschen.
Charlie leidet darunter, den Verfall ihrer Mutter mit ansehen zu müssen, versucht der Destruktivität des Elternhauses zu entfliehen und sieht sich doch immer wieder darauf zurückgeworfen. Schließlich entwickelt sie eine Obsession für das hedonistisch-verkorkste Ehepaar im Bungalow gegenüber; sie erscheinen ihr wie ein Ausblick auf eine begehrenswerte Freiheit und Lebendigkeit. Das Ende der Welt, das sich durch Unfälle und Selbstmorde, Stürme und drohende Kriege ankündigt, steht ihr dabei kaum im Weg: Charlie wusste ja schon immer, dass alles nur so enden konnte.
So fühlte sich die Welt an. Wie ein Tsunami, den ich vom Strand aus immer größer und gefährlicher werden sah, während alle anderen noch auf der Welle surften und Spaß hatten und nicht ahnen konnten, wie schnell die Wassermassen an der Küste auftreffen und ihre Körper an den Granitfelsen zerschmettern lassen würden, die schon seit drei Milliarden Jahren trotz Erosion und Witterung ihre Form nicht verändert hatten.
Teilweise lässt Hegemann den Leser*innen kaum Zeit zum Luftholen und noch weniger Gelegenheit zu antizipieren; was weniger an dem Tempo ihres Textes liegt, eher an der Widerspenstigkeit und Unberechenbarkeit ihrer Erzählstruktur. Das meiste, was geschieht, wirkt deswegen so eindringlich, weil man keine Ahnung hat, wohin sich die Erzählung entwickelt, welche Wendungen sie noch nehmen wird. Das Buch als Ganzes wirkt wie eine unvorhersehbare Angelegenheit (obwohl an einigen Stellen Ereignisse aus der Zukunft erzählt werden – der ganze Roman gibt sich als Niederschrift von Charlie aus, welche sie Jahre, vermutlich sogar Jahrzehnte später anfertigt), die im Verlauf ein paar Mal neu ausgerichtet wird.
Diese Eigenschaft des Textes führt dazu, dass viele Szenen nicht einfach ihren Platz im erzählerischen Verlauf einnehmen, sondern stets etwas Eigenes, Unmittelbares haben (was diese einzelnen Szenen stark macht). Gerade gegen Ende hin entsteht allerdings der Eindruck, dass Hegemann ihre Leser*innen mit allerlei Wendungen und Einzeldarbietungnen bannen muss (und allerlei Häppchen von der Apokalypse und der dahinterliegenden Zukunft), weil sie keinen größeren Plot hat, den sie entwickeln kann.
Doch dieser Eindruck täuscht womöglich, greift aber in jedem Fall zu kurz. Denn während der Plot an allen Rändern zu zerfasern droht, ballt Hegemann in den kleinsten Facetten eindrucksvolle Darstellungen und Erkenntnisse. Ihre Figuren sind nicht gerade herausragend gezeichnet, entwickeln aber durch die Intensität der Szenen ein Eigenleben, das sie glaubwürdig, lebendig werden lässt. Sie sind nicht einförmig (nur geformt aus einer Emotion), sondern auf jene Art emotional unförmig, umrisshaft, die dem (Zwischen-)Menschlichen eigen ist.
Kurzum: Hegemanns Text ist dort stark, wo es um Details, um Momente der Anschaulichkeit, um kleinere Ausführungen geht. Dann geht sie unter die Haut, erwischt uns im Augenblick des Unwohlseins, am Zipfel unserer Ignoranz, lässt uns stolpern auf den drehenden Walzen unserer Ängste und Erregungen.
Jederzeit würde ich Todesangst diesem Phlegma vorziehen, in dem man keiner unmittelbaren Gefahr ausgesetzt, aber bis zur Selbstaufgabe oder schon darüber hinaus gelangweilt ist, willensschwach und stumpf und von sich selbst enttäuscht, ich kann das sagen, weil ich schon Todesangst hatte, oft, und deshalb schreibe ich das alles auf, weil es vielleicht mein Verständnis erklärt für das, was sich in den Winterferien zu verselbstständigen begann, ich meine mein Verständnis für den Beginn der Selbstmorde.
Auch der Rahmenplot lässt sich rechtfertigen, wenn man den Roman als einen Versuch von Charlie sieht, über die letzte Zeit zu schreiben, in der die Welt noch auf der Kippe stand (eine Zeit, in der ihre eigene Welt genauso auf der Kippe stand), in der alle Katastrophen schon heranrollten, aber der letzte Schwung der Sorglosigkeit noch in die Pedalen der Gesellschaft trat. Ein schönes Motiv ist, dass die Schilderung des Untergangs mit dem Erwachen ihres eigenen Begehrens und ihrem Wunsch nach einem eigenen Leben zusammenfällt - beide Entwicklungen verstärken einander und machen einander gleichsam unwirklich.
Letztlich kann man diesen Rahmenplot auch einfach als unvermeidbares Accessoire akzeptieren. Wie der Alkoholismus der Mutter, gegen den sie ab und zu aufgebehrt und dem sie dann doch wieder erliegt, rutscht die Erde in Hegemanns Buch noch unaufhaltsamer ins Chaos als sie es eh schon in unserer Gegenwart tut (die kleine Katastrophe spiegelt sich in der großen); Hegemann schiebt sie nur etwas an, lässt die Konsequenzen etwas schneller auf den Plan treten.
Trotzdem ist der Rahmenplot kein Highlight und hat einen etwas faden Aktualitätswannabe-Beigeschmack, schmeckt ein bisschen nach „zu viel“. Aber dieser Vorwurf hat auch etwas Antrainiertes und man sollte immer vorsichtig sein, wenn man Vorbehalte abtippt – es könnten auch Vorurteile sein.
„Bungalow“ ist ein wenig geradliniger, mitunter etwas kopfloser Roman, der vor allem durch seine Unvorhersehbarkeit besticht (und hauptsächlich davon zusammengehalten wird) und sich manchmal wie eine etwas zu lose Reihung von eindringlichen Szenen liest. Übergreifendes bietet das Buch kaum, dafür feine Facetten, Intensivität und auch einige coole Szenen. Wem das genügt, der ist aufgefordert, es zu lesen!
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