Der schliff fehlt der Schliff
Der Ruhrpott, eine deutsche Kleinstadt, eine Straße durch Frankreich, eine Ranch in Kanada, zuletzt noch Australien oder nur mit dem Zug zu den eigenen Kindern, mit Hasch zum Schreibrausch – die Begegnung mit dem anderen Raum, die Bewegung durch andere Gebiete zu fremden Menschen und damit die Konfrontation mit dem Eigenen: Die siebte Ausgabe der Literaturzeitschrift schliff widmet sich in vielfältiger Form dem Thema Reisen. Lyrik und Prosa finden ihren Platz neben essayistischen Reiseberichten und bildhaften Arbeiten; der zweite Teil umfasst literaturwissenschaftliche Aufsätze. Die Herausgeber stellen der umfangreichen Ausgabe ein ausführliches Vorwort voraus, in dem bereits die akademische Ausrichtung der Zeitschrift deutlich wird:
„Unter dieser Perspektive wird die Reise zum Effekt der Schreibbewegung selbst, die ebenso rauschhaft wie körperlich anstrengend sein kann.“
Auch meine Lesereise durch die schliff könnte ich so beschreiben, denn nicht immer hat mich diese Auswahl an Texten überzeugt. Umso mehr freue ich mich über einige großartige und vielversprechende Stimmen, die hier versammelt sind. Auch gefällt mir die Kombination aus literarischen, bildnerischen und wissenschaftlichen Beiträgen, obwohl die Konzentration auf den Raum und die Uni Köln, was die Autorschaft angeht, doch sehr zentralistisch anmutet.
Den Einstieg macht Roman Ehrlich mit einer essayistischen Reise in die Kleinstadt. Der Protagonist, erst „der Reisende“ und dann das Ich, sprechen vom Anfängertum des Fremden, von der Unmöglichkeit des Eingreifens in die bestehenden Verhältnisse am bereisten Ort. Der Reisende liest auf seiner Reise die Tagebücher von Malinowski, Aufzeichnungen während des 1. Weltkriegs, den er in Papua-Neuguinea verbrachte und dort schließlich beschloss, keinen Roman mehr zu lesen. Die Verschränkung von Reise und (Nicht-)Lektüre verweist gleich hier auf einen Aspekt, der noch häufiger aufscheinen wird: Die Reise, die Mobilität als Voraussetzung und Anlass, literarische Bewegungen im Schreiben und Lesen zu vollziehen.
Ins Bett mit Bob Dylan geht Florian Neuner in Song-and-dance-man:
„Im Hotel Chicago lieben wir uns. Die Straße zum Hotel ist asphaltiert, nicht mit Kies bestreut. Das Haus erhebt sich wie eine Kapelle. Dahinter das Nichts... ein gähnender Schlund. Mir gefällt diese Dramatik, ich kann nichts dafür.“
Diese beinahe theatralische Ausbreitung des eigenen Blicks und der nachgeschobene Kommentar, so gewitzt wie dieser Einstieg sind wenige Beiträge in dieser Zeitschrift. Allerdings frage ich mich auch, ob der Text nicht zeitweise zu viel will mit all seinen Verweisen auf Dylan-Zitate, Motive aus der griechischen Mythologie und den eingestreuten Links zu dem Philosophen Frans Hamsterhuis. In diesem Text kann man auf Spurensuche gehen und sich vielleicht verlieren. Verzeihlich ist dieses Überbordende aber angesichts der spielerisch-starken Sprache, die das Webehandwerk bis zur Perfektion beherrscht.
Laura Konerts Erlebnisbericht über eine kurze Reise in „ein Universum von Düften, Farben und Tönen“ ist dagegen enttäuschend. Die Eindrücke, die die Protagonistin in einem ihr fremden religiösen Ritus erlebt, sind so abgegriffen und gewollt intensiv ausgebreitet, dass das so unbedingt Neue im Lesererlebnis zum längst Bekannten kippt:
„Es sind fremde Rhythmen und exotische Klänge, die mir nur selten eingehend begegnen; eben jene Tonleiter, die sich bereits vor dem Eintritt in diese unbegreifliche Welt durch Frauenstimmen Gehör gesucht hat. Die beiden Instrumente werden nun durch Gesang begleitet, so dass eine Energie im Raum entsteht, die mir Gänsehaut macht. Eine unbändige Kraft, die mich vereinnahmt und nicht mehr frei gibt.“
Genau mit der richtigen Dosis an neuem Blick, an unaufgeregter Sprache und stiller Brisanz überzeugt mich Yannic Han Biao Federers Text Die Kinder und die Kinder der Kinder. Die Frau, die zu ihren Kindern und zu den Kindern ihrer Kinder fährt, begibt sich auf eine Zugreise, um aufzupassen. Die starke Erzählstimme vollzieht einen sprachlichen Rückzug an die Oberfläche der Dinge und Tatsachen. Die große Einfachheit, mit der gleichsam die Zugsituation, die Landschaft und die Ausbesserung des Gartenzauns zu Hause beschrieben wird, rührt in einer sanften Art an die Tragik des Alltäglichen:
„Als der Zug aus der Stadt rollte und eine bloße, grüne Weite an ihre Stelle tritt, bekommt die Frau Appetit. Zuerst löffelt sie Joghurt mit Marmelade und Haferflocken aus einem ausgewaschenen Gurkenglas. Danach verspeist sie Butterbrote aus einem wiederverschließbaren Gefrierbeutel. Zum Schluss geschälte Gurken- und Karottenstifte aus einer kleinen blauen Tupperbox.“
Was Jonas Rink mit Virtually South möchte, erschließt sich mir nicht. Die Sternchen zwischen den Abschnitten zähle ich von eins zu drei aufsteigend und dann wieder rückwärts. Zweimal blüht ein Regenbogen über dieser Szenerie und dann gibt es da diese etwas schrägen und unscharfen Überblendungen von Sinneseindrücken, Personifizierungen und Metaphern:
„Die Türen seufzen auf und zu. Ein Windstoß haucht hinein und plötzlich schlägt der Fußboden auf. Ein Loch flattert in bunten Farben vor seinen Augen.“
Gern mehr gelesen hätte ich von Gunther Geltingers Romanauszug, der flowt, ist manchmal nah dran an einer Theatralik, die aber nie zu sehr beansprucht wird. Ein kleines ahh bleibt mir hingegen im Hals stecken, als ich Julia Josts kurzen Text lesen will. So viel zu viel wie der Titel: Prismatische Begegnung am Strand von Saint-Girons, so sinnschwer geht es weiter. Ich frage mich beinah, ob das hier absichtlich ist, entscheide mich dann aber dagegen:
„Ich lasse los und lasse mich ein, ich lasse mich fallen und schwebe. Unsere Träume schillern so wunderbar bunt, dass sie den Staub erleuchten und zur blauen Stunde unser wahres Gesicht zeigen.“
Großartig schreibt Max Willeke in seinem Reisebericht Yukon, der in sechs Abschnitten auf großen neun Seiten von der Psychiatrie nach Kanada auf eine Ranch reist. Ihren Höhepunkt hat die Erzählung als der Protagonist die Entsorgung eines Wolfkadavers mitten im zugeschneiten Wald besorgen muss:
„Als er fast das andere Ufer erreicht hatte, brach ein Teil der Schneeschicht weg und das Quad blieb in der eisigen Kante stecken. Der Anhänger wurde vom Strom erfasst, erst mitgezerrt und dann so umgeworfen, dass er sich gegen die Strömung stemmte und sich schnell mit Wasser füllte. Die Plane riss herunter und gab den Blick frei auf Schädel, Krallen und mit Fellfetzen behangene Glieder, die sich im Sog drehten.“
Weitere Prosa gibt es von Sybil Treiber, Patricia Görg, Tobias Steinfeld, Roswitha Haring, Christoph J. Bauer und Christopher Bauer über Aale, über die Sintflut in Tiflis und die Verkehrsbetriebe im Ruhrpott.
Die eingestreute Lyrik hat bei mir größtenteils keinen Eindruck hinterlassen. Gerrit Walters Versen fehlt etwas, sie versuchen einen Witz, der schräg sitzt oder vielleicht zu gesetzt ist. Jedenfalls lassen sie mich mehr oder weniger indifferent zurück. Ähnlich auch die Gedichte von Lisa James und Vivien Grambowski. Zwei Übersetzungen gibt es: Søren R. Fauths Gedicht Shanghai ist auf Dänisch und in der deutschen Übersetzung zu lesen und macht mit seinen Transferbewegungen von China zu den 71 toten syrischen Flüchtlingen in einem österreichischen LKW gleich mehrere Reiseebenen auf. Angelika Overath schreibt auf Romanisch und fügt selbst eine Übertragung hinzu. Rainer Komers Gedichte kann er vielleicht am ehesten selbst beschreiben:
„im reflektierten Linsenlicht des Projektors nebensächliche
Zahlen zwangsnotierend“
Die bildnerischen Arbeiten von Peter Riek lehnen sich an die Winterreise von Wilhelm Müller, die durch Schuberts Vertonung bekannt ist. Es sind schwarz-weiße Kreidebilder, Straßenzeichnungen, die wirken wie Kindermalerei. Sie sind verwischt und in ungenauen, mehrmals gefahrenen Linien hingeworfen und leuchten von innen her. Die Collagen, Coupures von Andreas Erb, setzen sich aus auf den Straßen von Ougadougou, der Hauptstadt von Burkina Faso, aufgesammelten Schnipseln und Resten zusammen, die in kleinen Bildern neu aneinander gefügt sind. Norbert Scheuer hat die Arbeiten kommentiert.
Im zweiten Teil der Zeitschrift kommt die schliff ihrer Beheimatung an der Uni Köln näher und lässt den Metastimmen über die Reiseliteratur Raum. Die Aufsätze von Sarah Meyer-Dietrich, Metin Genç, Daniela Gretz, Linda Rustemeier, Joris Löschburg, Michael Baun, Heike Kretz-Arnold, Hans Esselborn und Verena Hepperle beschäftigen sich mit Reiseaufzeichnungen von Humboldt und Darwin über Defoes Robinson Crusoe und Walter Benjamin Haschischprotokollen bis zu den Planetenreisen der Science Fiction Literatur, Herrndorfs Tschick und Felicitas Hoppes Roman Hoppe. Die Aufsätze greifen sprachlich und thematisch auf unterschiedlich avancierte Register zurück. So ist Michael Brauns und Heike Kretz-Arnolds Beitrag zu Tschick durchweg gut zu folgen, Daniela Gretz argumentiert in ihrem Aufsatz zu Hubert Fichte und Thomas Meinecke hingegen in stark akademischen Stil und schließt ein Laienpublikum aus.
Die Bandbreite der Zeitschrift reizt ihr Potenzial aus. Die Diskrepanz zwischen ambitionierten literaturwissenschaftlichen Beiträgen und den vereinzelten unbeholfenen Erlebnisberichten machen schon ein großes Fass auf. Manchmal fehlt dieser schliff der letzte Schliff, manchmal bietet diese Reise mehr allzu Bekanntes und Abgegriffenes als Vielversprechendes. Die Glanzstücke finden sich dennoch.
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