Seefahrer der Unendlichkeit
Wie einst Major Tom in seiner vom blauen Planeten abgeschnittenen Blechbüchse driftet Eva, die Erzählerin in Isabella Feimers neuem Roman Stella Maris, durchs All. „Die Erde ist ein verlorener Planet, und der Mensch ein vergessener Stern.“ Von blutigem Regen, von einem neuen großen Krieg ist die Rede; doch ob die Apokalypse bereits eingetreten ist oder noch bevorsteht, ob der Rest der Menschheit ausgerottet oder Eva zu deren Rettung angetreten ist, bleibt unklar – wie so vieles in diesem so sprachmächtigen wie kryptischen Büchlein.
Mit Eva reisen der Captain des Raumschiffs, ihr einstiger Geliebter, der in einen mysteriösen Dornröschenschlaf gefallen ist, Inès, die Pflanzenhüterin, deren naive Unschuld danach schreit, verdorben zu werden, Raul, der stille Maschinist, und Jacques, der Eva gierig bedrängt und danach trachtet, selbst das Kommando zu übernehmen.
Der urweiblichen, unsterblichen Erzählerin obliegt es, die Kommunikation aufrechtzuerhalten, untereinander und zwischen Schiff und Besatzung; tatsächlich jedoch wird sie immer wieder vom Sog ihrer Erinnerungen fortgerissen, deren Untiefen nicht nur die Beengtheit der Raumkapsel, sondern gleich das gesamte Raum-Zeit-Kontinuum sprengen.
„Alle Wege führten nach Rom“, paraphrasiert die Erzählerin in zynischer Resignation die altbekannte Redewendung, denn es sind die labyrinthischen Gassen der Stadt am Tiber, in denen sie sich immer wieder erinnernd verirrt. Hineingeboren in die Renaissance, erlebt Eva die Verbrennung Giordano Brunos, für dessen Postulat über die Unendlichkeit des Universums sie den lebenden (oder vielmehr: unsterblichen) Beweis abliefert, und viele Jahrhunderte später den Aufstieg des Duce und die Schrecken des Faschismus. Von der „Signora“ ist die Rede, einer verbitterten Witwe, die ihren Kummer in Orangenlikör ertränkt, dessen Duft für Eva zur quasi Proustschen Madeleine wird. Unweigerlich beschwört der Likörgeruch die Erinnerung an Luigi herauf, dem sie wie magnetisch gezogen durch die Gassen Roms folgt. Jahre, Jahrzehnte oder Jahrhunderte später trifft sie in Paris auf Joe, einen weiteren Mann, der obsessiv durch ihr Gedächtnis geistert. Von elektrischen Zahnbürsten und Schnellrasierern ist nun die Rede. Schüsse fallen, doch welcher Konflikt wird ausgetragen? Vielleicht befinden wir uns mitten im Zweiten Weltkrieg, unter deutscher Okkupation, in der Jetztzeit oder einen nahen Zukunft, zwischen Terror-Angst und Cyber-War.
Manches in Stella Maris bleibt allzu nebulös; der Reigen der Namen verbindet sich höchstens mit einzelnen Bildern und Düften, Zusammenhänge erschließen sich dabei kaum. Das kann auf Dauer frustrieren, ist vielleicht aber auch ein bewusster Kunstgriff der Autorin, um uns die Unzuverlässigkeit des menschlichen Gedächtnisses in aller (Un-)Deutlichkeit vorzuführen. Mit den Jahrhunderten wird die Erinnerung zum Ballast, den der Körper nicht abwerfen kann, Evas Geist ein Palimpsest („die unvermeidliche Textur der Dinge überlagert mich“) aus Liebe und Hass, Gräuel und Barmherzigkeit. Feimers lyrische Prosa – teils als Fließtext, teils in Zeilenform gesetzt – ist keine geringe Herausforderung, zugleich aber auch ein dem Sujet angemessenes Experiment, in dem das Format in etwa so häufig wechselt wie die Zeitebene:
„Fragmente, all das Lose muss man
sich erst zusammennähen,
Mutter nähte,
Vater zeigte mir meinen ersten Schmetterling,
dir, Joe, will ich kein Trugbild sein“
Eva träumt Zukünftiges und prophezeit Vergangenes; festhalten kann man sich einzig an wiederkehrenden Motiven, wie dem der Schmetterlinge, die sich aus ihrem Kokon befreien und mit ihren Flügelschlägen über Raum und Zeit hinweg unvorhersehbare Effekte auslösen.
Oft liegt nicht mehr als eine Leerzeile zwischen den Jahrhunderten. Schritte, die im rötlichen Schimmer des Notlichts durchs Raumschiff hallen, verbinden sich mit denen der Signora auf dem Flur ihres Hauses in Rom, der wiedererwachte Captain mit deren verstorbenem Mann; das Surren des Raumschiffs verwandelt sich in eine herannahende Pariser Metro. Wie Feimer die Zeitachse biegt und zu immer neuen Formen verschlingt, ist erstaunlich, wenngleich ihre Sprache dabei mitunter übertrieben düster-prophetisch daherkommt („Die Unendlichkeit ist ein Prolog, der auf der dunklen Bühne des Universums geschwiegen wird“). Einige wenige dieser wuchtigen Tableaus hätten eingeladen zum Verweilen und Nachhängen, doch in der Fülle tritt irgendwann ein Übersättigungseffekt ein. Am Schluss lässt Feimer den auferstandenen Captain gegen seinen Widersacher Jacques antreten – Raubtier gegen Raubtier – während die Erzählerin mehr und mehr zu Lilith, der Gegenspielerin Evas, mutiert. Ein etwas zu bombastisches Ende, hätte doch die von Anfang an mitschwingende Ungewissheit, ob die fünf „Seefahrer der Unendlichkeit“ zur Hölle fahren oder sich zu den Sternen aufschwingen, vollends als Spannungsbogen ausgereicht. Vielleicht verlangt ein derart orgiastischer Sprachrausch aber auch einfach eine gewisse barocke Überlast. Für Fans kluger, poetischer Science Fiction ist Stella Maris in jedem Fall ein seltenes Kleinod, das es sich zwei- oder auch dreimal zu lesen lohnt.
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