Wenn es allzu sehr menschelt, leidet die Literatur
Wo endet die Freiheit der Literatur und beginnen üble Nachrede und Denunziation? Apologeten eines „Kunst-darf-alles“-Ansatzes werden diese Frage schnell mit einem „Die Freiheit der Kunst ist grenzenlos“ abtun. Ganz so einfach ist es freilich nicht. Das wäre in etwa so, als würgte man jeglichen Diskurs über den Einsatz neuer Technologien mit dem Hinweis darauf ab, dass sich der Fortschritt ohnehin nicht aufhalten lasse, schon gar nicht von menschlichen Erwägungen; ergo, könne man sich die Mühe auch sparen.
Der Bonner Literaturwissenschaftler Johannes Franzen hat über den Schlüsselroman in der deutschen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg eine Dissertation geschrieben, die bei Wallstein erschienen ist. Entgegen dem gängigen, oftmals nicht ganz unberechtigten Vorurteil gegenüber wissenschaftlichen Qualifikationsarbeiten, ist „Indiskrete Fiktionen“ ein gut lesbares Buch, das neben theoretischen Überlegungen auch zahlreiche Beispiele der jüngeren Literaturgeschichte aufgreift und klug miteinander verknüpft. Das ist nicht nur informativ, sondern streckenweise sogar hochspannend. Und illustriert anschauliche, dass Schlüsselroman nicht gleich Schlüsselroman ist. Auch wenn sich die Verfasser dabei gerne – fast immer zu Unrecht – auf die Großen der Weltliteratur berufen.
Ein Beispiel: 1995 veröffentlichte Gerhard Roth seinen Roman „Der See“. Darin geht es um ein Attentat auf einen rechtspopulistischen österreichischen Politiker. Jeder informierte Leser konnte in dem Protagonisten unschwer den damaligen FPÖ-Vorsitzende und Kärntner Landeshauptmann Jörg Haider erkennen. Im SPIEGEL-Interview wurde Roth mit der Frage konfrontiert, wie er reagieren würde, wenn nun tatsächlich jemand, von seinem Roman inspiriert, einen Anschlag auf Haider verübte. Roths Antwort: Auf ihn könne sich ein potentieller Attentäter sicherlich nicht berufen, schließlich könne sich auch niemand „auf Dostojewski und seinen Roman ‚Schuld und Sühne‘ berufen, wenn er eine Wucherin umbringt“. Die Literatur sei eben eine eigene Welt und gebe immer nur ein Gleichnis ab.
Aber stimmt das? Tatsächlich ist Roths Roman weniger Gleichnis, als vielmehr eine weitgehend exakte, teilweise allenfalls überzeichnete Beschreibung einer real existierenden Person. Jeder Leser, jeder Rezensent hatte bei der Lektüre Haider vor Augen. Und natürlich profitierte Roth davon, dass sein Roman nicht nur als literarisches Werk, sondern auch als politischer Kommentar gelesen wurde. Roths Äußerungen zeugen somit von einer gewissen Eindimensionalität. Johannes Franzen weist darauf zu Recht hin, wenn er betont, dass der Typus der Wucherin bei Dostojewski fiktiv, die Figur Haider bei Roth hingegen sehr real sei. Der Politiker Haider hätte demnach durchaus das Recht gehabt, sich durch die Darstellung des Romans bedroht zu fühlen. Gleiches gelte nicht für eine x-beliebige Wucherin.
Und noch ein Beispiel: Die frühere Lebensgefährtin von Maxim Biller unternahm juristische Schritte, als 2003 der Roman „Esra“ erschien. Mit Erfolg, das Gericht bescheinigte der Klägerin sowie deren Familie aufgrund der intimen Detaildarstellungen des Buches eine erhebliche Verletzung der Persönlichkeitsrechte. „Esra“ wurde verboten und ist seither, von einigen überteuerten antiquarischen Ausgaben abgesehen, nicht mehr lieferbar. Der Fall zog nicht nur juristische Aufmerksamkeit auf sich. Eine aufgebrachte feuilletonistische Berichterstattung folgte, die recht eindeutig für Biller und die Kunstfreiheit Stellung bezog (und, das nur am Rande, der Bekanntheit des Autors durchaus zuträglich war).
Zu den spannendsten und zugleich erhellendsten Abschnitten in Johannes Franzens Buch gehören die Kapitel, in denen der einst für das Feuilleton zuständige Herausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, Frank Schirrmacher, in Erscheinung tritt; einmal selbst als Protagonist eines Schlüsselromans, ein andermal als lautstarker Ankläger eines Romans, der mittlerweile zu einer Art Negativschablone des Genres avanciert ist. Die Rede ist von Martin Walsers „Tod eines Kritikers“ (2002). (Die Schirrmacher-Schlüsselromanreihe ließe sich übrigens fortsetzen, allerdings fällt Angelika Klüssendorfs 2018 erschienenes Buch „Jahre Später“, in dem sie ihren früheren Mann ebenfalls recht gut erkennbar beschreibt, nicht mehr in den zeitlichen Untersuchungsrahmen von Franzens Arbeit.)
2012 veröffentlichte der damalige Feuilletonchef der „Süddeutschen Zeitung“, Thomas Steinfeld, zusammen mit einem befreundeten Mediziner unter dem Pseudonym Per Johansson einen sogenannten Schwedenkrimi. Darin wird ein gewisser Christian Meier aufs grausamste ermordet. Sowohl der wahre Verfasser als auch die „wahre“ Identität des beschriebenen Opfers, nämlich Schirrmacher, wurden schnell aufgedeckt. Der Versuch eines „Denkmalsturzes im Schafspelz eines harmlosen Krimis“, urteilte das Feuilleton. Steinfeld, der früher selbst bei der FAZ und unter Schirrmacher geschrieben hatte, wurde plumpe Rache als Motiv unterstellt. Schirrmacher selbst kommentierte seine eigene Ermordung in effigie nicht.
Umso schärfer hatte er jedoch zehn Jahre zuvor in die Debatte um den (vermeintlichen) literarischen Mord an dem Starkritiker André Ehrl-König in Martin Walsers „Tod eines Kritikers“ eingegriffen. Dass Ehrl-König Marcel Reich-Ranicki ist, stand für jeden, der das Buch gelesen hat, außer Frage. Noch bevor der Roman auf dem Markt war, beschuldigte Schirrmacher Walser in der „Frankfurter Allgemeinen“, eine antisemitische Vernichtungstat begangen zu haben. Dieser Lesart pflichtete Jan Philipp Reemtsma bei: „Wo das Denken so entgleist, sind, das lehrt die Lebenserfahrung, starke Emotionen am Werk, und man wird die Hypothese wagen können, daß sie auch im Buch ihren Ausdruck gefunden haben“, so Reemtsma. Hass und Rachegedanken hätten Walser beim Schreiben die Feder geführt. Thomas Steinfeld wiederum, auch das verdient mit Blick auf die nachfolgenden Entwicklungen Erwähnung, hat Walser in der „Süddeutschen“ in Schutz genommen und seinerseits Schirrmacher vorgeworfen, einen „politischen Rufmord“ an Walser begangen zu haben.
Die genannten Beispiele machen zwei Dinge deutlich. Zum einen, das bemerkenswerte Interesse der Feuilletons am Schlüsselroman. Dass der Schlüsselroman dabei meist in die Schmuddelecke geschoben wird, tut der grundsätzlichen Faszination, die diese Spielart der Literatur auf die Kritik ausstrahlt, offenbar keinen Abbruch. Zu groß ist die Verführung, sich als literarischer Detektiv in den (meist) eigenen Reihen auf die Suche nach den echten Personen hinter den Figuren zu machen. Zum anderen, dass die Grenzen dessen, was einen Schlüsselroman ausmacht, fließend sind. Und meist dort überschritten werden, wo nicht literarische Maßstäbe, sondern privater Hass gepaart mit Rachegelüsten das Schaffen des Autors oder – wenngleich deutlich seltener – der Autorin bestimmen.
Jan-Philipp Reemtsma hat diese feine Distinktionslinie in der Debatte um „Tod eines Kritikers“ recht treffend beschrieben, indem er der Walser’schen Figur des Ehrl-König Leo Naphta aus Thomas Manns „Zauberberg“ gegenüberstellte. Denn auch Naphta habe, wie die allermeisten Figuren bei Thomas Mann, Züge einer realen Person aufgewiesen, nämlich jene des ungarischen Philosophen Georg Lukács. Der Qualitätsunterschied sei allerdings eklatant – weil die Figur Naphta sich auch ohne Hinweis auf das reale Vorbild genießen lasse. „Das liegt daran, daß Naphta eine in sich stimmige und geschlossene Figur ist und daß alles, was an ihm sonderbar oder befremdlich ist auf den Leser wirken mag, zur Steigerung einer bedeutungsvollen Individualität dient.“
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