Überleben mit Proust
Buchmesse bedeutet immer auch Überforderung. Die Flut der Neuerscheinungen wirft einen hier leicht um. Aber statt zu verzagen kann man das auch als Befreiung betrachten: Ich kann sowieso nur einen winzigen Bruchteil von alledem wahrnehmen, also muss ich nicht gehetzt und verzweifelt den vielen lauthals schreienden Neuerscheinungen hinterherlaufen, sondern kann ihnen auch einfach den Rücken kehren und mir Zeit nehmen für ganz besondere Bücher, die es vielleicht schon länger gibt und die still darauf warten, bemerkt zu werden. Ich möchte daher an dieser Stelle ein sehr besonderes Buch vorstellen, das schon 2006 erschienen ist, das ich aber erst jetzt mitten im Messetrubel für mich entdeckt habe. Es handelt sich dabei um das Buch „PROUST. Vorträge im Lager Grjasowez“ von Joseph Czapski, aus dem Französischen übersetzt von Barbara Heber-Schärer und erschienen bei der Friedenauer Presse.
Das besondere an diesem schmalen Bändchen ist die Hintergrundgeschichte zum Proust-Essay den es enthält. Diese wird in der „Einführung des Verfassers. 1944“ beschrieben:
Dieser Essay über Proust wurde im Winter 1940-1941 diktiert, im kalten Refektorium eines ehemaligen Klosters, das uns in unserem Gefangenenlager in Grjasowez in der UdSSR als Speisesaal diente.
Der Mangel an Genauigkeit und die Subjektivität dieser Seiten rühren zum Teil daher, daß ich über keinerlei Bibliothek oder Bücher zu meinem Thema verfügte und seit September 1939 kein französisches Buch mehr gesehen hatte. Es waren lediglich Erinnerungen an Prousts Werk, die ich mich bemühte, mit relativer Genauigkeit zu vergegenwärtigen. Es ist also kein literarischer Essay im eigentlichen Sinn des Wortes, vielmehr Erinnerungen an ein Werk, dem ich sehr viel verdanke und von dem ich nicht wußte, ob ich es je in meinem Leben noch einmal wiedersehen würde.
Joseph Czapski war unter den vierhundert Überlebenden der fünfzehntausend Gefangenen. Die Vorträge hielten die Gefangenen füreinander um die Niedergeschlagenheit und Angst zu überwinden und um zu überleben. Joseph Czapski erzählt, dass es Vorträge über die Geschichte der Völkerwanderungen, Architekturgeschichte oder Südamerika gab. Der polnische Maler und Schriftsteller Joseph Czapski selbst sprach über französische und polnische Malerei und über französische Literatur.
Bewegt dachte ich damals an Proust in seinem überheizten Zimmer mit den Korkwänden, der sehr erstaunt und vielleicht gerührt gewesen wäre, daß zwanzig Jahre nach seinem Tode polnische Gefangene am Ende eines langen Tages im Schnee, bei einer Kälte von oft vierzig Grad, mit lebhaftem Interesse den Geschichten von der Herzogin von Guermantes, vom Tode Bergottes und all dem zuhörten, woran ich mich aus dieser Welt voll psychologischer Entdeckungen und literarischer Schönheit erinnerte.
Joseph Czapski schließt seine Einführung mit den Worten:
Dieser Essay ist nichts als ein bescheidener Dank an die französische Kunst, die uns in jenen Jahren in der UdSSR geholfen hat zu leben.
Das Buch ist damit zugleich ein bewegendes Zeitdokument und eine sehr liebevolle und klare Einführung in das Werk von Marcel Proust. Dadurch, dass es sich dabei um Erinnerungen an das Werk Prousts handelt, ist der Essay unheimlich konzentriert und gut nachvollziehbar und ist damit sowohl für Proust-Experten spannend, als auch für all jene, die sich bis jetzt noch nicht an Proust heran gewagt haben.
Czapski beginnt mit seiner persönlichen Leseerfahrung und erzählt, dass er nicht sofort Zugang zu Proust gefunden hat, da er die französische Sprache zu wenig kannte, nicht genug literarische Bildung besaß und Bücher gewohnt war „in denen etwas passiert“. Erst ein Jahr später fesselte ihn dann der zufällig aufgeschlagene elfte Band des Werkes und er las ihn in einem Zug durch. Wegen eines Typhusfiebers fand er dann in weiterer Folge die nötige Zeit, während eines Sommers das komplette Werk zu lesen und kehrte dann immer wieder zu ihm zurück.
Als nächstes stellt er die Frage nach dem Kontext der Entstehungsgeschichte – „Was geschah zu dieser Zeit in der französischen Kunst und Literatur?“ und verortet das Werk Prousts.
Der biografischen Lesart widmet Czapski den meisten Raum in seinem Essay. Seine These der er dabei folgt ist: „Jedes große Werk ist auf die eine oder andere Art tief mit dem Lebensstoff seines Autors verbunden.“ Immer wieder zieht er mit der größten Selbstverständlichkeit Parallelen zwischen Leben und Werk des Autors. Das ist sehr erfrischend für mich, war doch die biografische Lesart in meiner Studienzeit etwas sehr Verpöntes. Doch Roland Barthes „Der Tod des Autors“ ist ja erst 1967/68 erschienen, also lange nachdem Czapski 1940/41 seine Vorträge zu Proust im Lager Grjasowez gehalten hatte. Der Text ist damit nicht nur ein geschichtliches Zeitdokument, sondern auch ein literaturwissenschaftliches.
Ganz beiläufig erfahren wir also viel über das Leben und die Eigenarten von Marcel Proust:
Proust hatte eine verzögerte und komplizierte Art zu reagieren. Wenn er beispielsweise den Louvre besuchte, sah er alles, aber reagierte auf nichts. Abends, in seinem Bett, hatte er dann regelrechte Fieberanfälle vor Begeisterung.
Später erklärt er, dass man von Proust beeinflusste Romanwerke als „romans-fleuves“ (Fluss-Romane) bezeichnen würde. Seine Erklärung dafür ist dann sehr schön und einprägsam:
Nicht was der Fluß mitführt – Treibholz, einen Kadaver, Perlen –, ist das für einen Fluß Charakterische, sondern die Strömung an sich, die kontinuierlich ist, ununterbrochen. Prousts Leser, der sich in die scheinbar einförmigen Fluten begibt, fesseln nicht die Tatsachen, sondern die Personen, die ununterbrochen fließende Bewegung des Lebens selbst.
Joseph Czapski spricht im weiteren auch mit kaum unterdrücktem Entsetzen über die Proust-Übersetzung von Boy-Zelenski, welcher der Ansicht war, dass im Polnischen „der endlose Satz Prousts völlig inakzeptabel“ sei und auch sonst durch einen geänderten Satzspiegel, eigefügte Absätze und Einzüge, etc. für eine leichtere Lesbarkeit sorgte, was zu einer Verdopplung des Umfangs führte. Doch zu diesem Zeitpunkt hat Czapski uns bereits erklärt, was es mit den endlos langen und damit so schwer verständlichen Sätzen Prousts und seinem, wie man ihm vorwarf, nicht französischen Stil auf sich hat:
Proust sagt, die Verwandtschaft seines Satzes mit dem deutschen sei weder Zufall noch Ungeschicklichkeit, sie rühre vielmehr daher, daß der deutsche Satz heute dem lateinischen am nächsten stehe. Sein Stil lehne sich nicht dem Deutschen, sondern dem Französischen des 16. Jahrhunderts an, das noch enger mit dem Lateinischen verbunden war.
Einerseits vermittelt uns Joseph Czapski einen guten Überblick über das Werk Prousts und seine Hintergründe, andererseits geht er aber auch ins Detail und erzählt uns einzelne Szenen und Seiten, die vielleicht nicht „die wertvollsten“ seien, wie er meint, ihm aber stärker in Erinnerung geblieben sind. Die Subjektivität seiner Vorträge, für die er sich immer wieder entschuldigt, ist aber zugleich auch ihre Stärke.
Mit seinen Vorträgen gelingt Joseph Czapski etwas, was kaum möglich scheint wenn man die Entstehungsvoraussetzungen mit bedenkt und weiß, dass er keinerlei Hilfsmittel und keine Bücher zu Verfügung hatte: Auf wenigen Seiten bringt er uns ein Werk in all seinen Facetten und Besonderheiten näher, das so umfangreich ist, dass es einen ganzen Sommer braucht, um es zu lesen und eine jahrelange Beschäftigung, um es auch nur ansatzweise zu erfassen. So umfassende, tiefgreifende und einfühlsame Vorträge aus der Erinnerung über das Werk Prousts zu halten, ohne jemals nachschlagen zu können, ist eine ungeheure Leistung. Das ist einzig durch ungeheure Wertschätzung und Begeisterung möglich und diese überaus ansteckende Begeisterung ist es auch, die bis heute aus jedem seiner Worte zu uns spricht.
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