Im Raum der Phantasie.
„Das ganze Unglück des Menschen kommt aus einer einzigen Ursache, nämlich nicht ruhig in einem Raum bleiben zu können.“ Der Satz wird dem französischen Philosophen Pascal zugeschrieben, Karl Heinz Bohrer zitiert ihn im – nach „Granatsplitter“, erschienen 2012 – nun vorliegenden zweiten Teil seiner Lebensgeschichte. Nimmt man das Zitat wörtlich, muss man sich Bohrer als einen unglücklichen Menschen vorstellen.
Denn sonderlich lange hat er es nie in einem Raum ausgehalten. Auch wenn das Phantastische, das bereits im Titel enthaltene Leitmotiv des Buches, womöglich auch im stillen Kämmerchen gedeihen kann, ist der Lebensweg Bohrers von einer bemerkenswerten Umtriebigkeit gekennzeichnet. Sowohl was die äußeren Umstände mit Stationen in Frankfurt, London, Paris und Bielefeld betrifft, als auch mit Blick auf sein intellektuelles Schaffen als Kritiker, Hochschullehrer, Autor und Herausgeber des „Merkur“.
Das verbindende Element war dabei stets die Literatur. Ihre Rezeption fundiert seinen Blick auf die Welt, der sich weniger an politischen, als an ästhetischen Kriterien ausrichtet. Politische Zusammenhänge spielen in seinem Denken keine übergeordnete Rolle. Gleichwohl gibt es sie. Allerdings treten sie vor allem ex negativo auf den Plan, etwa in der Abwendung von stumpfen politischen Parolen oder eines allzu teleologischen Europadiskurses, der ihm in seiner diskursfeindlichen Simplifizierung ein Gräuel ist. Dasselbe gilt für den ostentativ zur Schau gestellten bundesrepublikanischen Pazifismus, in dem er die kleinbürgerliche Sehnsucht nach einem Leben in einer von den Gefahren der Welt abgeschnittenen Gartenlaube erkennt. Seine Bekanntschaft mit Ulrike Meinhof, aus der ihm seine Vorgesetzten bei der FAZ beinahe einen Strick gedreht hätten, war ihm keine Inspiration für linksradikales Denken, sondern Anregung für ein Buch über Surrealismus und Terror.
Die Abkehr von Deutschland erfolgte mit dem unfreiwilligen Abgang als Literaturchef der FAZ. Seinem Nachfolger Reich-Ranicki wird aufgetragen, die Literaturkritik der Zeitung journalistischer, publikumsfreundlicher, kurzum, weniger intellektuell zu gestalten. Die anschließenden Jahre als Kulturkorrespondent in London sind für Bohrer eine Phase des Übergangs, weg vom Journalismus und hin zu einer verstärkt akademischen Tätigkeit. Ein Übergang, der nicht allen behagt. Sein langjähriger Gesprächspartner Habermas weist ihn darauf hin, dass es in Deutschland unzählige Germanistikprofessoren gebe, aber nur sehr wenige wortmächtige Literaturkritiker. Doch die Entscheidung ist getroffen. Den Wechsel an die Universität Bielefeld begründet Bohrer damit, dass ihm nicht an vielen Lesern gelegen sei, sondern am intellektuellen Austausch mit einigen wenigen.
Die ideale Plattform dafür bietet ihm der monatlich erscheinende „Merkur“, dessen Herausgeberschaft er während seiner Bielefelder Zeit übernimmt und bis 2011 für insgesamt 27 Jahre innehat. Dort veröffentlicht er fortan seine Essays und Buchbesprechungen und verfolgt sein Konzept eines elitär-ästhetischen Gegenentwurfs zur Feuilletonlandschaft der großen deutschen Zeitungen, deren austauschbarer Stil sowie „gesinnungsethische“ Konformität, sei es beim Thema Europa, Flüchtlinge oder Islam, ihm zunehmend zuwider sind. Nach Deutschland zieht ihn, abgesehen von seiner Lehrtätigkeit und seiner Merkur-Herausgeberschaft, nichts mehr. Der kurze Versuch, sich in Köln im geerbten Haus des Vaters niederzulassen, wird nach wenigen Monaten abgebrochen. Der empfundene Provinzialismus der Deutschen ist und bleibt ihm ein Graus. Nach dem Tod seiner Frau, der Schriftstellerin Undine Gruenter, siedelt er nach London über, wo er bis heute lebt.
Karl Heinz Bohrer hat in seinem Leben viele Räume betreten und wieder verlassen. Allzu lange hat er es, sieht man von seiner Liebe zur Literatur und Kunst sowie seinem Engagement für den „Merkur“ einmal ab, nirgendwo ausgehalten. Zu groß waren die Verlockungen der Veränderung und die Aussicht auf das Neue. Einzig den für ihn prägendsten Raum, den der Phantasie, hat er dabei nie verlassen. In diesem Sinne darf man sich Karl Heinz Bohrer nach der Lektüre seiner Lebenserinnerungen doch als einen glücklichen Menschen vorstellen.
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