Ein Fall fürs Vergessen
Man soll ja bekanntlich mit Superlativen eher sparsam umgehen. Wenn nun auf der Rückseite von Kate Tempests 2017 zum ersten Mal auf Deutsch erschienenen, ersten Gedichtband Brandneue Klassiker in überschwänglicher Manier die Autorin als „vielleicht wichtigste Sprachkünstlerin ihrer Generation“ angepriesen wird, so lädt dies zu einer sehr genauen Lektüre ein. Zugegeben: Der Hype um Tempest leuchtet angesichts der Fülle an politischen Themen und deren wilder, fast litaneihafter Vortragsweise ein. Die Autorin und Rapperin aus London legt einen Anspruch an den Tag, der weit über einfache Rhymes und Hooks hinausgeht. Sie sucht in ihren Texten die Nähe zum Menschen, zu seinen Abgründen und Sehnsüchten, ohne dabei die sozialen Realitäten dieser Menschen außer Acht zu lassen, stets auf der Suche nach neuen literarischen Formen und Ausformungen, ob in der Musik, Lyrik, im Theater oder in der Performance. Das ist stark und mutig – aber auch nichts Neues.
Und genau das ist auch das große Problem im Band Brandneue Klassiker, erschienen in der eher lieblosen Übersetzung von Johanna Wange in der edition suhrkamp. Tempest versucht sich in ihrem Debütband an einer der wohl ausgereiztesten Formen überhaupt: dem Epos. Im 21. Jahrhundert bedeutet das, einen Spagat zwischen antiker Form und modernem Duktus zu vollführen, ohne dabei in den Hinterhalt dieses bis aufs äußerste heimtückischen Komplexes zu geraten. Das gelingt der Autorin von vorne bis hinten nur halb bis gar nicht. Schon der Anfang – hier gelesen als eine Art Einführung in den eigentlichen Gegenstand des Bandes – birgt derart viel Überschwängliches, dass man sich fragen muss, woher sich Tempest die Freiheit nimmt, uns „Normalsterblichen“ von oben herab die Welt zu erklären. Dieser Predigerton gehört zu Tempests Markenzeichen, er durchzieht zwar nicht den ganzen Band, erstickt jedoch vieles, was vor und nach ihm kommt. Was dabei am meisten stört, ist die leise Überlegenheit, mit der die Autorin in keiner Minute spielt, sondern dieselbe in vollen Zügen auskostet. Dieser an die Beatniks angelegte Duktus geht überhaupt nicht auf: Ginsberg benutzte zwar in seinem Epos Howl einen ähnlichen Ton, predigte auch, und zwar Seiten über Seiten, bei ihm aber geschah dies stets auf Augenhöhe mit dem sich selbst auferlegten Thema – er verballhornte diesen Stil mehr, als dass er ihn tatsächlich ernstnahm. Das macht Howl auch zu einem der wichtigsten Texte moderner Lyrik. Tempest hingegen inszeniert ihr lyrisches Ich als Hohepriesterin einer Gesellschaft, in der zwar alles irgendwie verloren ist, aber auch irgendwie nicht. Dies ebnet den Weg für Sätze aus der 0815-Philosophie-Kiste: „Wir sind vollkommen dank unserer Schwächen.“ Vieles in dieser Einführung in das eigentliche Epos ist undifferenziert:
„Es gab schon immer Helden,
und es gab schon immer Schurken,
mal mehr von diesen, mal mehr von jenen,
aber das macht im Grunde nichts aus.
Es gab schon immer Ehrgeiz und Kummer und Gier
und Liebe und Sünde und Reue und Mut –
die Wesen von einst sind in uns weiterhin hier,
in all unsrer Streitlust und Gemeinheit und Wut.
Alltägliche Irrfahrten, Träume und Scheidewege…
Die Geschichten sind da, hör einfach zu.“
Wer so über Schurken und Helden schreibt, übersieht oder will übersehen, dass es so etwas wie historische oder soziale Perspektiven gibt. Dass die Autorin, je weiter der Text voranschreitet, genau diese Schwarz-Weiß-Malerei aufgibt und viel differenzierter ihre Figuren zeichnet, ist ein Glücksfall für dieses Buch. Trotzdem hängt dieser Widerspruch in der Luft, und man fragt sich als Leser*in, ob es diese überschwängliche, an homerische Epen angelegte Litanei am Anfang überhaupt braucht. Denn der zweite Teil dieses Bandes gestaltet sich umso interessanter.
Im Rest des Bandes rollt Tempest die Geschichte zweier Familien bzw. zweier Generationen auf: Trostlose englische Vorstadtleben, die, so gut es eben geht, versuchen, ihrem Alltag zu entfliehen oder ihm mit der größtmöglichen Gleichgültigkeit zu begegnen, indem sie saufen, ficken oder Lines ziehen. Die Sprache hier ist sehr direkt, gespickt mit durchrhythmisierten Passagen und lakonisch aufbereiteten Bildern, die einen beim Lesen bei der Stange halten. Und doch: mehr ist da nicht. Von Mal zu Mal schaltet sich auch das lyrische Über-Ich in das Geschehen ein und predigt wieder von oben herab, gerade so viel, dass der Ärger über so viel Arroganz nicht auf den ganzen Band überschwappt: Man will trotzdem wissen, wie es für die Protagonisten ausgeht. Allein diese Tatsache macht Brandneue Klassiker nicht zu einem Epos und Kate Tempest nicht zur vielleicht sprachmächtigsten Lyrikerin ihrer Generation – bestenfalls beherbergt dieser Band eine nette, im amerikanischen Stil gehaltene Short Story vor dem Hintergrund einer fast ausgestellten, sozialen Tristesse. Ich habe schon besseres gelesen!
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