Herr Stimmung knows a whale is big
Wow, was für ein Duo! Die Gravitationen von Keith Waldrop sind eine Kiste voll Endlichs. Einerseits ist nun ein wichtiger Teil des Werks dieser wichtigen Stimme der Weltlyrik endlich in deutscher Übersetzung vorhanden, zwei großartige Bände in Collagen Waldrops verpackt, der selbst mit Rosmarie zusammen die grandiose Burning Deck Press fast 50 Jahre geführt hat, andererseits ist seine Lyrik ein Kampf/ Ausdruck gegen Endlichkeit. Wie es Ben Lerner in seinem Nachwort festhält:
Seine Gedichte erkunden das Verlangen nach etwas dem Sichtbaren Jenseitigen und konfrontieren das Nichts, das da ist. Aber anstatt nur ein langer Gang der Verzweiflung zu sein, ist es auch eine Rückgewinnung des Erstaunens vor der eigentlichen Welt – jedes Sandkorn, und das Verhältnis der Körner zueinander.
Ohne jedoch im Streben nach Wirkung sich zu verlieren, "der größte Fehler, den ein Gedicht begehen" könne, so er selbst, betreibt Waldrop in frei fließenden Versen eine Schmelze aus Wissen, Vermuten und Festhalten. In nicht selten beunruhigender Atmosphäre tupft sich Kosmos und Dahinter in die "geisterhaften" Verse Waldrops, ein Philosoph der Lyrik. Nichtsdestoweniger handhabt er Sprache, ökonomisch oder abwegig, fast leichtfüßig. Jeder Vers betritt in klarem Licht die Möglichkeiten der Assoziation, des Rhythmus und erstaunlicherweise, besonders in diesem zweiten Band, den der Komik. Typen wie Herr Stimmung und andere sind außerordentlich drollige Vertreter eines "nüchternen Kauzen" oder so. Einerseits schwanger mit den Mysterien, andererseits ein Vogelfütterer vor dem Herrn, der sich über jedes Licht in einer Feder nicht weniger erstaunt, als vom Mondverglühen seit Antike.
Schön ist bei dem von Jan Kuhlbrodt und David Frühauf herausgegebenen Doppelband, dass die Gruppe ÜbersetzerInnen sich selbst freie Hand lässt in Auswahl und Stil ihrer Übertragungen. Besonders Swantje Lichtenstein überzeugt mit ihren schneidend guten Tönen. Im Plakatumschlag findet sich das Gedicht Song for crossing a Bridge in jeweils unterschiedlich übertragenen Versionen des kompletten Teams. Ein schöner Beweis für die Rechtmäßigkeit unterschiedlicher Wege.
Herr Stimmung über Transparenz
Für Menschen eines bestimmten Temperamentes gibt es nichts
Schlimmeres, als die Vorstellung, es gäbe etwas Verstecktes,
Geheimes, ihnen Vorenthaltenes. Besonders wenn sie vermuten,
dass jemand anderer davon weiß und es vielleicht sogar heimtückisch
zurückhält.D. H. Lawrence scheint der Gedanke furchtbar irritiert zu
haben, dass andere Menschen Sex hätten und ihm nichts
davon sagten.Freud auch.
Tja, und dann hat es Freud so eingerichtet, dass jeder drüber
sprechen musste.Seine Psychoanalyse bringt Licht in die Tiefen und Transparenz
in unsere verworrenen Windungen, und das bis zu dem Punkt,
an dem das ICH alles bis runter zum ES sehen kann.Und der Vorgang setzt sich nach außen in sich vergrößernden
Ringen fort:Der Meister analysiert seine Schüler, die dabei – jetzt transparent
– auch Meister werden und sich ihrerseits Patienten
oder Schülern zuwenden und sie analysieren.Sodass es irgendwann keine Geheimnisse mehr gibt.
Außer natürlich die des ersten Meisters, des Selbst-Analysierten.
[aus Mirror]
we meet
and then we
meet by chanceWir treffen uns,
und dann treffen wir uns
durch Zufall
[aus Paradise]
the path we
follow disappears
behind usDer Weg, dem wir folgen
verschwindet
hinter uns
Wandler
vögel hör ich
weinen
und bestimmte autohupen
scheinen meinen namen zu rufendas geräusch fällt
hinunter
ins innere, hup
weinendes
liedkeine wörter, sondern
flügelgeräuschees gibt nicht nichts
Ohne Übertreibung kann man sagen, hier eines der wichtigsten und bestausgeführten Unterfangen der Übertragung amerikanischer Lyrik der letzten Jahrzehnte vorliegen zu haben. Die punktgenaue und doch zurückhaltende gutleut-Gestaltung tut den Bänden sehr wohl – man kann sich keine andere Umgebung mehr vorstellen für die rasterhafte Fokus-Technik Keith Waldrops in Vers, Komposition und Bildmontage. Ein Highlight in jeder Hinsicht. Mehr so.
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