Fräulein Antonia möchte frei sein
Der Roman von Kristine Bilkau, Eine Liebe, in Gedanken erzählt von der unglücklichen Liebe zwischen Antonia und Edgar und gleichzeitig davon, wie Antonias Tochter, die Ich-Erzählerin, nach dem Tod ihrer Mutter das Leben ihrer Mutter mit immer größerer Zuneigung Revue passieren lässt. Mit jedem Brief, den sie in deren Wohnung findet, jeder Notiz, jedem Buch erfährt die Tochter mehr über ihre Mutter.
»Fräulein Weber«, die Stimme der Konrad. »Ist Ihr Besuch noch da?«
Wir befinden uns im Jahr 1964, Antonia wohnt zur Untermiete, wo Herrenbesuch nach 22 Uhr nicht mehr erlaubt war. Und als sich Edgar, den sie kürzlich kennengelernt hat, später aus der Wohnung schleicht, verabschieden sich die jungen Liebenden höflich voneinander.
»Es war mir eine Freude.«
»Was war Ihnen eine Freude?«
»Dass ich Ihr Gast sein durfte«.
Ich habe selbst in den 60iger Jahren meine Teenagerzeit verbracht und doch fast vergessen, wie stark die Anfänge dieser Epoche noch von den Fünfzigern beeinflusst waren. Der Begriff Spießbürger hatte seine Berechtigung, man siezte sich, wurde erst mit 21 Jahren volljährig und die Antibabypille war keine Selbstverständlichkeit. In dieser von der Adenauerzeit geprägten Atmosphäre lernt die zwanzigjährige Antonia den schüchternen Edgar kennen und lieben. Beide verdienen wenig, sie als Sekretärin, er als Kaufmannsgehilfe, können sich nur wenig leisten, und er lebt sogar, weil er Alimente für einen unehelichen Sohn zahlen muss, noch bei den Eltern. Während die Ich-Erzählerin die Wohnung der Mutter ausräumt, entwickelt sie immer mehr Verständnis dafür, dass sowohl ihre Mutter als auch Edgar aus dieser Enge ausbrechen wollen.
In einer Zeit, in der Mädchen stets ermahnt werden, ihren Eltern keine Schande zu machen, verhält sich Antonia erstaunlich selbstbewusst, drängt Edgar zu nichts, schon gar nicht zum Heiraten und praktiziert mit ihm, als befände sie sich bereits ins den späteren 68iger Jahren, die sogenannte freie Liebe.
Bücher, Cocktailgläser, ein verschwenderischer Abend im Grand Hotel: Edgar wird später sagen, Antonia habe ihm ein schönes Leben gezeigt. Als er die Chance bekommt, in Hongkong eine Dependance seiner Firma aufzubauen, unterstützt sie seinen Plan, will nachkommen und sich gemeinsam mit ihm ein neues Leben aufbauen.
An einem Ort leben, wo dich niemand kennt. Wo sich für dich selbst alles nur um die Zukunft dreht. Man ist ein Mensch mit leichtem Gepäck.
Als er weg ist, wartet Antonia auf Nachrichten, Briefe und – ohne es wiederum einzufordern – auf seine Aufforderung nachzukommen. Als diese tatsächlich eintrifft, löst sie ihre Wohnung auf, gibt ihren inzwischen guten Job auf, wohnt vorübergehend bei Verwandten und wartet. Doch der ersehnte Flugschein wird nie kommen.
Wie oft, wenn es zu spät ist, bedauert auch die Ich-Erzählerin, ihre Mutter nicht genauer danach befragt zu haben, woher sie die Kraft nahm, dieser Liebe alles unterzuordnen.
Mit ihrer Liebe, die ebenso nutzlos schien, weil sie wahrscheinlich nicht mehr erwidert wurde, weil sie nicht zu einer respektablen, funktionierenden, ordentlichen Ehe geführt hatte. Eine eigensinnige Frau, die diese Situation aushielt, lange, ohne Garantie für irgendetwas. Die weiter daran glaubte, dass es keinen Unterschied gab zwischen Zukunft und Traum. Und dann war meine Mutter es, die am Fenster saß, ein wenig müde, die hinaussah auf die Jüngeren, die zurückblickte auf ihr eigenes Leben, die sich bis zum Schluss von niemandem ihre Liebe hatte abwerben lassen, ihre angeblich so unheilbare, zwecklose, vergebliche und verschwendete Liebe.
Der Titel Eine Liebe, in Gedanken lässt sich durchaus zweifach deuten. Er bezieht sich zum einen auf Antonia, die ihr Leben lang an Edgars Elternhaus vorbeifährt, um zu sehen, ob er da sei. Er gilt aber auch für die Beziehung der Ich-Erzählerin zu ihrer Mutter, denn mit allem, was sie im Nachlass findet, entsteht für sie ein neues Bild ihrer unangepassten, freiheitsliebenden Mutter und mit diesem Bild wächst ihre Achtung.
Ich sehnte mich nach Toni und Edgar, nach ihrem Glück, nach ihrer gemeinsamen Zukunft, die es einmal gegeben hat.
Der Roman erzählt außerdem noch von der Flüchtigkeit der Liebe. Um diese zu beschreiben, genügen Kristiane Bilkau verräterische Formulierungen in Edgars Briefen und besonders gelungen zeigt sie dies anhand eines missglückten Telefongesprächs. (Ach ja, Ferngespräche mussten damals angemeldet werden und wurden zu Unzeiten unterbrochen.)
Warum die Liebesgeschichte so unglücklich ausging, kann letztlich niemand erklären. Vielleicht hat Edgar dem schönen Leben nicht getraut, jedenfalls wirft er Antonia öfter vor, sie lebe in einer rosaroten Welt. Auf die Frage der Ich-Erzählerin, weshalb er sich von ihrer Mutter getrennt habe, antwortet er:
»Aber die Wahrheit ist, dass ich Ihnen dafür keine Erklärung geben kann.«
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