Herzlich, Ihr Scharlatan
Gemäß Laurie Pennys Ansage, dass es den „Blick von nirgendwo“ (bezogen hier auf die vermeintliche Neutralität weißer, bürgerlicher, cis-männlicher Journalisten) nicht gibt, positioniert sich auch die Literaturzeitschrift PS im deutschsprachigen Literaturbetrieb: Texte entstehen nicht im luftleeren Raum, und schon gar nicht gelangen sie im luftleeren Raum an die Öffentlichkeit (oder eben auch nicht). Diese Einsicht klingt trivial, wird tatsächlich jedoch selten so deutlich ausgesprochen, in all ihren Facetten ausgeleuchtet und vor allem als Anlass genommen, es anders zu machen. Genau das tut PS (was sowohl für „Postskriptum – Anmerkungen zum Literaturbetrieb“ als auch für „Politisch Schreiben“ steht) nun schon im dritten Jahr und damit in der dritten Ausgabe, die den Titel „Imagination – Krise – Wirklichkeit“ trägt.
Der Ansatz der Herausgeberinnen, Produktions- und Distributionsprozesse sichtbar zu machen und zugleich einer breiteren Perspektivenvielfalt Raum zu geben, ist mutig, notwendig und lange überfällig. Im Großen und Ganzen kann man die Umsetzung als geglückt bezeichnen, im Kleinen manchmal auch nicht. Doch da sich PS als „work in progress“ versteht, macht das gar nichts. So wurde beispielsweise in der zweiten Ausgabe mit der Separierung von Autor_innennamen und Texten experimentiert – ein Konzept, das sich offenbar nicht durchgesetzt hat. Altbewährt ist indes das Format: PS beginnt mit einem Block aus Essays und Interviews, gefolgt von Belletristik, die sich in Prosa, Drama und Lyrik unterteilt, wobei die Kurzprosa den größten Raum einnimmt.
Über prekäre künstlerische Schaffensbedingungen und die zunehmend stromlinienförmige Ausrichtung von Verlagen und Agenturen hat man in letzter Zeit einiges gelesen – zumindest aus der Sicht jener Autor_innen, die sich dieser Marktlogik entziehen. Umso spannender ist daher ein Bericht von der „anderen Seite“, in dem eine der „Türhüter_innen“ – in diesem Fall die ehemalige BELLA-TRISTE-Mitherausgeberin Lena Vöcklinghaus – einen Blick hinter die Kulissen gewährt. Durch langjährige (Lese-)Erfahrung hat sie sich ein Handwerkszeug vermeintlich „objektiver“ Kriterien angeeignet. „Wenn ich werte, werte ich aber auch als heterosexuelle, weiße, europäische Frau, die sehr lange unhinterfragt ,gute Literatur‘ als solche las und einst den Amazonas hinunterschipperte.“ Dieser subjektive Faktor (Vöcklinghaus nennt ihn „X“) wird selten preisgegeben von Lektor_innen, Kritiker_innen, Juror_innen, Magazinmacher_innen, denn er macht angreifbar. Und gerade darum sollte das stetige Balancieren „zwischen einem mühsam angelernten Wissen und einem X, das ,herzlich, Ihr Scharlatan‘ unter jede getroffene Entscheidung schreiben will“, im Literaturbetrieb viel mehr thematisiert werden.
Um Verletzlichkeit geht es auch in dem Beitrag von Carolin Krahl und Olivia Golde, der sich an dem vielfach romantisierten Zusammenhang zwischen Melancholie und Schöpfergeist abarbeitet: Am Beispiel von Ingeborg Bachmanns „Aufzeichnungen aus der Krankheit“, Sylvia Plaths „confessional poetry“ und Heike Geißlers Tagebuch des Scheiterns an einem unmenschlichen Arbeitsalltag („Saisonarbeit“) zeigen sie ganz nebenbei auch die Geschlechterbrille auf, durch die derartige „Beichten“ in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. (Man denke nur an die unterschiedliche Rezeption von, sagen wir, Chris Kraus, und Thomas Melle oder Benjamin von Stuckrad-Barre.) Eine Poesie, die das Funktionieren verweigert, ist bereits inhärent politisch, da es der neoliberalen Logik des positiven Denkens, des „Erschaffe dich selbst!“ zuwiderläuft. Doch wird sogar die Melancholie –bestärkt durch ihre jahrhundertealte romantische Verklärung – mehr und mehr vereinnahmt als (vermeintlich) kontrollierbare Kreativitätsdroge, der in der heutigen Leistungsgesellschaft die lähmende, zur Unproduktivität verdammende Depression als das Andere, Kranke gegenübersteht.
Auf derartige Gegenüberstellungen und Kategorisierungen wurde bei der Auswahl der literarischen Beiträge bewusst verzichtet. Stimmen verschiedenen Alters, verschiedener Herkunftsländer und -sprachen, Bildungsgrade, Geschlechtsidentitäten, sexueller Orientierungen, Schreib- und Publikationserfahrungen stehen gleichwertig nebeneinander. Was eine Bewertung nach literarischen Gesichtspunkten – v.a. im Rahmen des inklusiven Anliegens der Zeitschrift – nicht gerade einfacher macht.
Was ist mein X? habe ich mich deshalb als erstes gefragt. Es hat wohl, stark vereinfacht ausgedrückt, damit zu tun, weiß, bürgerlich-akademisch aufgewachsen, weiblich sozialisiert, queer und knapp 40 zu sein, mit meinem eigenen Schreiben, meinem autodidaktisch zusammengewürfelten Lesekanon, meinem Gender-Studies-Background. Zusammengenommen lässt sich sagen: Ich habe ein Faible für (originelle) Science Fiction, queere Schreibpositionen und experimentelle Sprache – und von all dem lässt sich in der neuen PS erfreulicherweise einiges finden.
Dystopien und Fantastik, so scheint es, bieten sich an, um die Krise als Keil (oder auch als Katalysator) zwischen Imagination und Wirklichkeit zu schieben. Das lässt sich denken als konkretes „Wunsch/Angst trifft auf Realität“-Szenario, oder auch abstrakter, im Sinne des Borromäischen Knotens bei Lacan, der das Reale, das Imaginäre und das Symbolische miteinander verflicht.
So z.B. in Alisha Gamischs Text „ZwischenLand“, der sich nach und nach als postapokalyptische Skizze rund um Grenzziehungen und Einteilungen in „Wir“ gegen die „Anderen“ entpuppt, ohne dabei ein konstitutives Außen zu benennen. Die völlige Unklarheit der Regeln und Strukturelemente dieser fiktiven Welt macht eine Positionierung beim Lesen beinahe unmöglich – und ruft zugleich ein Gefühl des Wiedererkennens aktueller Verhältnisse wach.
Subtiler, aber nicht weniger dystopisch geht es in Maja-Maria Beckers „lied vom wunderofen“ zu: Auf einer Erzählebene wird ein Straßenmusiker und Anarchosyndikalist, der in den 80er Jahren im Bautzener Gefängnis einsaß, von den Geistern der Vergangenheit verfolgt, auf der anderen Seite erinnert sich die Erzählerin an ihre Jugend in der niedersächsischen Provinz, an vorbeirollende Panzer, ferne Militärparaden und die Angst vor atomarem Ausfall. Nostalgie und Unheimliches mischen sich hier auf seltsame, und doch allzu bekannte Weise.
Hervorragend (beklemmend) ist auch Harrie Toschs Bewusstseinsstrom aus der Perspektive eines Kindes, dessen Sprache sich durch einen sexuellen Übergriff (und v.a. durch das Wegsehen der Familie!) wortwörtlich aufzulösen beginnt. Man könnte auch sagen: Die Krise zwischen innerer und äußerer Realität wird derart eklatant, dass daran jegliches Ausdrucksvermögen zerbricht.
Ein Überschuss an Ausdruck findet sich hingegen in Sämi Assirs poetischen Illustrationen am Ende des Hefts, die auf den ersten Blick an Telefonkritzeleien erinnern, gleichzeitig aber auch komplexe geometrische Suchbilder sind. Mit einem einzigen, nie abreißenden, sich immer wieder überlagernden Strich fängt Assir das Innen, das Außen und die Sollbruchstellen dazwischen ein.
Nicht allen Arbeiten gelingt diese, ich nenne es mal: feine Verstörung. Gerade die eher konventionell erzählte Prosa bleibt oft in genau jenen „gemachten Schemata“ stecken, die PS eigentlich aufbrechen möchte. An dieser Stelle zeigt sich dann doch die Problematik eines unterschiedslosen Nebeneinanders von realistischen Erlebnisberichten ohne jegliche literarische Ambition und solchen Texten, die auch ästhetisch etwas wagen, die Form und Inhalt als Einheit betrachten. Es wäre sicherlich verfehlt, an die Protokolle sexueller Übergriffe, homophober Anfeindungen und rassistischer Gewalt literarische Kriterien anzulegen. Frei nach der Aussage von Ulrike Draesner (im Gespräch) „Der direkte Weg in die Fiktion war versperrt“ lassen sich gerade die drängendsten Erlebnisse nicht unmittelbar in Literatur übersetzen. Eher wäre zu überlegen, ob es Sinn machen könnte, weitere Kategorien zu schaffen (die ja mit der Genre-Einteilung ohnehin angelegt sind). Auch wenn es dazu sicherlich Pro und Contra gibt.
Glücklicherweise beinhaltet der Name der Zeitschrift im Sinne eines „Postskriptum“ auch die Tatsache, dass niemals alles gesagt werden kann. Es wird immer eine Anmerkung zur Anmerkung geben. Ein PPS, ein PPPS, und so weiter. Man darf also gespannt sein, wie sich dieses ambitionierte „work in progress“ im nächsten Jahr fortsetzt!
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