A record of / Our little lives
Erster Impuls: … dass man da gar zu gerne dabei gewesen wäre, (wie Nora Bossong, Matthias Kniep, Nicolai Kobus, Simone Kornappel, Nadja Küchenmeister, Léonce Lupette, Klaus Modinck, Kerstin Preiwuß, Marcus Roloff, Ron Winkler und Katja Winter) unter der Ägide von Christian Lux einige dieser nachgelassenen Gedichte und Notizbuch-Textvariationen Leonard Cohens zu übersetzen … aber der erste weicht bei Lektüre des ansprechend aufgemachten zweisprachigen KiWi-Bandes "Die Flamme | The Flame" rasch dem deutlich angemesseneren zweiten Impuls: … nämlich ca. zenbuddhistischer Gelassenheit angesichts der Flüchtigkeit des Lebens und (schriftlich) fixierter Bedeutung.
So unmöglich es ist, sich die abgedruckten englischen Texte ohne die Stimme und den Duktus des alternden Cohen zu denken (auch die vielen sehr einfachen Vierzeiler aus den Notizbüchern, die da versammelt sind, weisen ihrer Einfachheit zum Trotz den unverkennbaren und nuancierten Rhythmus seiner späten Songs auf), so unmöglich ist es, die deutschen Nachdichtungen ohne die Folie dieses Sounds im Hinterkopf zu lesen. Wenn die deutschen Texte als Interpretationshilfen zu den amerikanischsprachigen Originalen hinreichen, geradlinige guides durch die Idiome, Anspielungen und solche entlegeneren Vokabeln, die man beim einfachen Lesen nicht automatisch präsent hat, dann haben sie alles erfüllt, was sie erfüllen müssen oder können: Kaum steht anzunehmen, dass "Die Flamme | The Flame" sich so, wie das Buch angeboten wird – Hardcover, feines Papier, orange bedruckter Schnitt, 350 dicht mit poetry gefüllte Seiten, ein Vorwort von Cohens Sohn, eine editorische Notiz der Herausgeber, eine Anmerkung zur Übersetzung, zahlreiche Zeichnungen des Alten persönlich, hauptsächlich Selbstportraits – an Leser*innen richtet, die mit der Materie völlig unvertraut, und die also nicht zumindest im Englischen der Lagerfeuer-Folksongs bewandert wären.
Als zweisprachiger Band betrachtet, ist "Die Flamme" also vor allem das Artefakt einer pflichtschuldigen Geste gegenüber Cohen als einflussreichem Dichter und Popularisierer von Songs und ganzen Stilen auch hierzulande, wie sie von Christian Lux und den Übersetzer*innen sozusagen "namens der deutschsprachigen Literatur" aus Anlass von Cohens Tod vollzogen wird.
Die englischsprachige Sammlung für sich genommen dagegen, also die Textauswahl selber, wie sie wesentlich noch von Field Commander Cohen persönlich besorgt wurde, ist ein nachgerade notwendiger Baustein für die zukünftige Cohen-Rezeption. Denn: Es sich ja nicht vor allem die Texte dieser letzten Lieder ("You want it darker", "Never mind" …) und die sonstigen in sich abgeschlossenen Großgebilde, um die es hier geht. Die kann sich jede*r interessierte Computernutzer*in auch innert weniger Minuten aus dem Netz zusammensuchen, und gratis. Spannend dagegen ist, was uns Cohen so nur durch den Kontext dieser message from beyond the grave vermitteln (oder doch zumindest suggerieren) konnte; nämlich das Gefühl für seinen spezifischen Modus der Annäherung an die poetische Großform Song – für das Herantasten übers Kleinformat (Bluesstrophe, Haiku, verliebter Zweizeiler…) an den Moment, da der jeweilige besondere Einfall im Banalen, in der ggf. kitschigen Phrase zündet. Wir sollen sein Zeug bloß nicht als Pop bzw. als Unterhaltungsindustrie lesen, scheint uns Der Alte Schwerenöter Im Anzug Mit Seinem Hintergrundchor mit seiner Zusammenstellung mitteilen zu wollen. Es geht nicht um lyrischen Formkram, es geht um ganz ernst genommene Glücks- und Transzendenzversprechen – und (in nicht nur diesem einen Gedicht, das nach Erscheinen von "Die Flamme | The Flame" die Runden auf Facebook gemacht hat) um die zu ihrer Erfüllung anscheinend nötigen melancholischen Coolness:
KANYE WEST IST NICHT PICASSO
Kanye West ist nicht Picasso
Ich bin Picasso
Kanye West ist nicht Edison
Ich bin Tesla
Jay-Z ist nicht der Dylan von irgendwas
Ich bin der Dylan von was irgend möglich ist
Ich bin der Kanye West unter den Kanye Wests
Der Kanye West
Des großen Scheinwandels der Humbugkultur
Von einer Boutique in die nächste
Ich bin Tesla
Ich bin seine Spule
Die Spule die Strom so weich wie ein Bett machte
Ich bin der Knaye West von dem Kanye West glaubt dass er es sei
Wenn er deinen Arsch von der Bühne schubst
Ich bin der echte Kanye West
Ich komm nicht mehr viel rum
Bin ich nie
Ich lebe erst nach einem Krieg auf
Und damit sind wir noch nicht durchMontreal 15, 2015
Übersetzung: Léonce W. Lupette
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#Nora Bossong, Matthias Kniep, Nikolai Kobus, Simone Kornappel, Nadja Küchenmeister, Léonce W. Lupette, Christian Lux, Klaus Modick, Kerstin Preiwuß, Marcus Roloff, Ron Winkler, Katja Winter
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