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Kritik

Warlord in der Wanne

Hamburg

Der Autor Lorenz Just, Jahrgang 1983, hat Islamwissenschaften in Halle an der Saale studiert und 2015 ein Jugendbuch mit dem Titel "Mohammed. Das unbekannte Leben des Propheten" veröffentlicht. Als ob Kinder- und Jugendliteratur gleichsam per Definition keine intellektuelle Substanz vorstellbar sein ließe, handelt es sich im Verständnis des Bücherbetriebs also bei "Der böse Mensch" um sein literarisches, in Wahrheit aber schlicht um sein "Erwachsenendebut", sechzehn kurze Erzählungen mit dem vom Autor gleich mitgelieferten konzeptionellen Subtext: wer oder was macht den bösen Menschen aus, was ist das überhaupt, das Böse? Dass dies keine so leicht zu beantwortende Frage ist, dürfte der Leserschaft von vornherein klar sein. Und so nähert sich Lorenz Just seinem Sujet zunächst einmal über eine Figur an, bei der sich am ehesten ein diesbezüglicher Konsens einstellen dürfte, nämlich über einen Ich-Erzähler, der sich als Anführer einer afrikanischen Söldnertruppe entpuppt, ein Herr über Kindersoldaten, über Leben und Tod einer namenlosen Region mit hungernder und gepeinigter Zivilbevölkerung. Nach Mitteleuropa geflohen, betreibt er hier einen Frisörsalon und lebt mit einer Einheimischen zusammen, die von seiner Vergangenheit nichts weiß. Seine liebste, irgendwie als diffus-kontemplativ empfundene Beschäftigung ist das Baden in der häuslichen Wanne. Währenddessen reflektiert er über seine Vergangenheit; er tut dies weder beschönigend noch sich selbst anklagend: In Justs Wortwahl klingt eher ein achselzuckendes Es-ist-wie-es-ist an, und das ganz ohne das vermeintlich Schicksalhafte zu benennen:

"Die Filme zeigen es so: Der Böse stirbt einen grausamen Tod oder zeigt unendliche Reue. In Wirklichkeit lebt er friedlich unter Nachbarn und vermisst wie jeder andere die alte Zeit.[...] Ich muss weder bereuen noch wird jemand kommen, um zu richten, und ich muss mir nicht das Leben nehmen. Ich werde ungestört weitermachen, ob ich will oder nicht."

In den folgenden Texten faltet Just nach und nach den Fächer seiner Protagonisten auf; so werden etwa ein Bibliotheksaufseher und seine Kolleginnen vorgestellt, die trotz  gegenseitiger Animositäten einer drohenden Rattenplage Herr zu werden versuchen; oder Herr Naumann, der in merkwürdig unempathischem Duktus seine Familiengeschichte bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein beschreibt; ein Umherstreifender, der offenbar tiefsitzende Aggressionen mit sich herumträgt; oder ein Schriftsteller, der im Atelier seines abwesenden Bruders steht und sich von dessen Bildern anregen lässt, den eigenen Text dann aber nicht aufschreibt. Immer wieder tauchen die Figuren an anderer Stelle wieder auf, auch wenn die Geschichten in sich abgeschlossen erscheinen und durchaus auch so lesbar sind. In der Episode "Marschieren durch die Parkanlage" etwa in der Mitte des Buches lässt Just sein Personal aus den einzelnen vorangegangen Texten dann sogar zusammentreffen, wobei sich allerdings keine echten Interaktionen, sondern nur ein sich gegenseitig weitgehend ignorierendes Nebeneinander entwickelt.

Diese Verbindung der einzelnen Texte über die in ihr handelnden Figuren folgt zunächst einmal keiner nachvollziehbaren Ordnung und bleibt damit formal diffus; dennoch baut sich hierdurch und durch die Tatsache, dass Just keine ethische oder moralische Wertung vornimmt, eine zunehmend beunruhigend wirkende Atmosphäre auf. Die Leserschaft sucht das Muster, so wie sie den Subtext der jeweiligen Handlung sucht und diesen schließlich eher fühlen als intellektuell freizulegen imstande ist. Die Figuren und ihre Intentionen bleiben oft rätselhaft. So spricht einer der Protagonisten an einer Stelle von sich, und es klingt fast schon paradigmatisch für das gesamte Buch:

"Es gibt Symbole, die für etwas stehen, die meisten Symbole sind solche Symbole. Aber es muss auch solche geben, die für nichts oder nur für eine Ahnung, für etwas Unaussprechbares stehen - dazu gehöre ich."

Dazu kommt, dass es sich bei den Texten immer wieder um ganz unterschiedliche Textsorten handelt; so gibt es "klassische" Stories, aber auch Bildbeschreibungen, die fast schon etwas Essayistisches haben, die Form des Interviews, eine Art aphoristischer Collage usw. Dazu kommen noch differenzierte Erzählperspektiven: fast scheint es, als habe Just versucht, möglichst viel von dem, was man mit der kleinen Prosaform anfangen kann, unterzubringen. So entsteht allerdings über weite Strecken eine Melange mit gefühlt zu vielen Zutaten, die gleichsam überwürzt und manchmal ein wenig unentschlossen anmutet.

Die letzten drei Texte haben es dann allerdings wieder in sich; allein ihretwegen lohnt sich der Kauf des Buches.

In "Kalt genug" beschreibt der Autor atmosphärisch dicht die Bemühungen der beiden Brüder Georg und Wolfgang, die Leichname ihrer Eltern, die offenbar einen Doppelsuizid verübt haben loszuwerden. Nach einem in sich logisch nachvollziehbaren Plot suche man nicht - es geht einmal mehr nicht so sehr um das Was als um das Wie.

"Mit jedem seiner Schritte bewegten sich Wolfgangs breite Schultern auf und ab; Georg kannte den Rhythmus dieser Schritte, doch jetzt fiel er ihm auf, als sähe er ihn zum ersten Mal. Sein Bruder schwieg, und auch Georg hatte keine weiteren Fragen, keine Sätze, keine Worte."

"Liebes Kind" ist der Brief eines Vaters an seinen abgetriebenen Nachkommen, der Versuch einer Rechtfertigung der elterlichen Entscheidung infolge der hohen Wahrscheinlichkeit schwerer Behinderung. Diese Geschichte wagt eine Gratwanderung zwischen Tabubruch und Seelenkitsch, pflaumenweichem Relativieren und tragischem Selbstbetrug, und die Balance gelingt, noch dazu mit erzähltechnisch ausgesprochen konventionellen Mitteln.

Die letzte Geschichte schließlich, "Der Bericht einer Reise", entpuppt sich als eine atemlose Odyssee, die sich aus dem Schreiben selbst entwickelt. Das erzählende Ich reproduziert Sprache und wird gleichzeitig handelndes Subjekt des von ihm Erzählten, und zwar ganz ohne metaleptische Sprünge, denn es gibt nur eine einzige Erzählebene: alles bewegt sich scheinbar chronologisch hintereinander weg. Dabei werden offensichtliche Brüche übergangslos geschildert, wie an der Stelle, an der der Protagonist sein Elternhaus verlässt:

" Vor dem Haus war ein Schotterweg, dort hielt ich inne und lauschte. Ich hörte meinen Computer brummen, aus dem offenen Fenster heraus, aber ich dachte ja, es wäre nur für einen Augenblick. In Amerika war ich sofort beliebt, niemand ahnte, dass ich nur ein weiterer Ausreißer war."

Von der Zivilisation gerät das Ich in eine merkwürdige Wildnis, sieht sich kultischen Handlungen einer offenbar indigenen Gemeinschaft ausgesetzt, ist plötzlich anscheinend ein Obdachloser; Traum, Wachphasen und Visionen wechseln unablässig miteinander ab, bis es offenbar in einem "Heer der Eremiten" eine Art rituell herbeigeführtes Weltende ereilt. Hier ist das Grundmotiv, die Frage nach dem Bösen, nur noch unterschwellig zu ahnen. Aber vielleicht ist auch die vermeintliche Programmatik des Buches nur ein weiterer Akt des Verschleierns und Behauptens wie so vieles in den Justschen Geschichten. In jedem Fall kann und will uns "Der böse Mensch" darauf nicht wirklich Antworten geben. Es bleibt die Auseinandersetzung mit einem facettenreichen Erzähler, dessen in unserem Literaturbetrieb als fast unausweichlich zu betrachtendes, ergo sicherlich in absehbarer Zeit anstehendes Romandebut mit Spannung erwartet werden darf.

Lorenz Just
Der böse Mensch
Dumont
2017 · 150 Seiten · 20,00 Euro
ISBN:
978-3-8321-9879-4

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