Der Regen beginnt mit einem einzigen Tropfen
In Saudi-Arabien ist derzeit einiges in Bewegung. Thronfolger Mohammad Bin Salman setzt zu Reformen an. Er will vom radikalen Islam, der die Gesellschaft seit der Besetzung der großen Moschee in Mekka im Jahr 1979 beherrscht, abrücken. Den Erneuerungskurs setzt er allerdings mit harter Hand durch und räumt auch innerhalb der Königsfamilie rücksichtslos auf. Konkurrenten lässt er unter Korruptionsvorwürfen aus dem Weg räumen. Die internationale Presse beäugt die Aktionen des jungen Kronprinzen (Salman ist Jahrgang 1985) skeptisch.
Zu den Reformen gehört auch, dass Frauen ab 2018 offiziell Auto fahren dürfen. Ein Gesetz, das es ihnen verbot, gab es nicht. Aber der radikale Klerus erklärte Frauen am Steuer für sittenwidrig und ließ seine mittelalterlichen Vorstellungen von Zucht und Ordnung von der Religionspolizei durchsetzen, die von der eigentlichen Polizei unabhängig agiert. In den letzten Jahren hat sich auf vielen Ebenen Gegenwind formiert. Schon seit 2016 darf die Religionspolizei keine Festnahmen mehr durchführen. Und liberale Geistliche haben immer wieder versucht, den Hardlinern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Im Zuge des arabischen Frühlings hatte sich auch im saudischen Königreich der Protest mit Hilfe der sozialen Medien Gehör verschafft.
Dass Frauen ab kommendem Jahr ans Steuer dürfen, ist nicht zuletzt Manal al-Sharif zu verdanken. Die Aktivistin für Frauenrechte hatte 2011 die Kampagne Woman2Drive ins Leben gerufen und ein Video von sich bei Youtube veröffentlicht, wie sie ein Auto durch die Straßen der Stadt Khobar lenkte. Ihre darauf folgende Inhaftierung löste eine weltweite Solidaritätswelle aus und machte sie über Nacht bekannt. Es war auch der mediale Druck, der das Königshaus schließlich bewog, sie freizulassen und einzugestehen, dass sie nicht gegen Gesetze verstoßen hatte. Das Fahrverbot hatte Frauen wiederholt in eine katastrophale Lage gebracht. Denn einen öffentlichen Nahverkehr gibt es in Saudi-Arabien nicht, und selbst ein Taxi dürfen Frauen nur nehmen, wenn es ihnen von einem mit ihnen verwandten Mann erlaubt wurde.
Von ihrem Kampf für Frauenrechte erzählt Manal al-Sharif in ihrem unlängst auch auf Deutschen erschienen Buch „Losfahren“. Aber nicht nur darum geht es, sondern auch um ihren Wandel von der religiösen Extremistin in jungen Jahren zu einer Frau, die ihrem Land tief verbunden ist und genau deshalb die Verhältnisse verändern möchte.
Al-Sharif wurde 1979 in Mekka geboren, dem Jahr der Moscheebesetzung, in dem die radikale Ideologie Einzug hielt, die heute noch das Fundament des IS und anderer islamistischer Gruppen bestimmt. Sie wuchs in ärmlichen und konservativen Verhältnissen auf, gibt Einblick in das Schulsystem, das auf Auswendiglernen getrimmt ist, wo kritische Nachfragen und kleinste Fehler mit Schlägen bestraft werden. Als Jugendliche trägt sie den Niqab, die Komplettverschleierung, die nur die Augen frei lässt, und beginnt unter dem Einfluss der Schule, vermeintliche religiöse Vergehen und Nachlässigkeiten ihrer Eltern und Geschwister zu Hause zu ahnden, verbrennt die Musikcassetten ihres Bruders, und sogar Familienfotos müssen vor ihr versteckt werden, weil sie darin wegen des islamischen Bilderverbots eine Sünde wittert.
Doch im Urlaub besucht sie mit ihrer Mutter Verwandte in Ägypten und Libyen, und sie genießt die Freiheiten dort sehr, so das sich ihre Haltung Stück für Stück wandelt. Später studiert sie Informatik und erhält eine Arbeit in der Datensicherung beim staatlichen Ölkonzern Aramco. Der unterhält für seine aus aller Welt kommenden Mitarbeiter ein eigenes Firmengelände bei Khobar, eine Stadt in der Stadt, und dort spielen die strengen Sittenregeln der saudischen Gesellschaft eine untergeordnete Rolle. Es gibt Kinos, in Restaurants keine Geschlechtertrennung, es wird getrunken und Frauen dürfen Auto fahren.
„Allmählich begriff ich, dass die Ideen, auf die ich mich eingelassen, und die ich mein ganzes Leben lang blind verteidigt hatte, nur eine eigenartige, radikalisierte Sicht der Welt darstellen. Ich begann, alles in Frage zu stellen“,
schreibt Manal al-Sharif über diese Zeit. Sie unterstützt ihre Eltern finanziell und versteht sich gut mit ihrem Bruder, der ebenfalls bei Aramco arbeitet. Doch rein rechtlich ist er, obwohl einige Jahre jünger, ihr Vormund. Sie will das nicht länger akzeptieren. Nach Auslandsreisen, Aufenthalten in Dubai, den USA und Europa, erscheinen ihr die rigiden Traditionen der saudischen Gesellschaft immer absurder.
Dabei geht es ihr nicht um den Islam. Al-Sharaf ist gläubig und lebt ihre Religion, jeder Erwähnung des Propheten Muhammad ist im Buch ein respektvolles „Friede sei mit ihm“ angefügt. Überhaupt müssen die Hardliner der wahabitischen Elite einige Verrenkungen machen, um Traditionen und Restriktionen mit Koran und Hadithen zu begründen, und es kommt nur selten vor, das weniger radikale Geistliche ihnen nicht umgehend widersprechen. Welch absurde Blüten das treibt, macht sie mehrfach deutlich. Die Tatsache etwa, dass fast jede einigermaßen wohlhabende Familie sich einen privaten Chauffeur leistet, weil die Frauen sonst kaum eine Möglichkeit hätten, aus dem Haus zu kommen. Oder der Polizeichef, der nach ihrer Festnahme eingestehen muss, dass sie gegen gar kein Gesetz verstoßen hat, als sie sich ans Steuer setzte, und sie dann freilässt – nur damit spät nachts der Geheimdienst vor der Tür steht, der in ihrer Aktion einen Angriff auf den Staat sieht.
„Losfahren“ gibt Einblicke in ein Land, über das im Westen außer Klischees kaum etwas bekannt ist, und all den Widrigkeiten setzt es die Geschichten starker und mutiger junger Menschen entgegen, die mit Kreativität und unbändigem Engagement daran arbeiten, die Verhältnisse zu verbessern. Und so winzig die Schritte auch sein mögen, es scheint ihnen zu gelingen. Oder, um es mit den Worten von Manal al-Sharif zu sagen: „Der Regen beginnt mit einem einzigen Tropfen.“
Anmerkung der Redaktion: Aus dem Englischen von Gesine Strempel unter Mitarbeit von Joachim von Zepelin.
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