„Das Subjekt gleitet über der Leere wie auf dünnem Eis“.
Splitter können ins Auge gehen und unter die Haut. Sie sind winzige Störenfriede, oft schmerzhaft und meist kommt man ohne chirurgischen Eingriff nicht mehr los von ihnen. Marcus Steinwegs Splitter nehmen ihren Weg durch das lesende Auge ins Gehirn und setzen sich dort fest. Oder sie bleiben über Tage in den blätternden Fingerkuppen, bis sie irgendwann wieder zum Vorscheinkommen.
Ich gestehe freimütig, dass mein Gehirn für schwierige philosophische Probleme zu wenige Windungen aufweist. Vielleicht stimmt auch etwas mit meinen Synapsen nicht, da sich an deren Spalten immer wieder Neurotransmitter-Stauungen ergeben. Dies geschieht weniger im Feierabendverkehr, als beim Lesen philosophischer Texte. Mutig, dann zu einem Buch von Marcus Steinweg zu greifen?
Steinweg (er hat das Studium der Philosophie nach wenigen Monaten abgebrochen) verzichtet in seinem Büchlein auf Wissenschaftssprache und umfangreiche Anmerkungsapparate (dokumentiert aber sorgfältig in 227 Fußnoten seine zahlreichen Quellen) und verabreicht seine philosophischen Erkenntnisse in kleinen, teils aphoristischen Portionen. Diese kleinen Portionen wirken auf den ersten Blick wie winzige appetitliche Text-Häppchen. Klug formulierte Kürzestprosa. Sind aber als Betthupferl ungeeignet, da schwer verdaulich. Die Sätze tarnen sich als einfach und selbstverständlich, schleichen sich in den Organismus ein, zersplittern und verhaken sich dann in meinen synaptischen Spalten, um die es – ich sagte es bereits – auch so nicht zum Besten bestellt ist.
Steinweg bringt das Wesen des Denkens: „Es gehört zum Komfort des Denkens, sich dessen Unbequemlichkeit nur momentweise zuzumuten.“ Eine ermutigende Einladung, obgleich „Splitter“ einen dazu nötigen, die Komfortzone immer wieder zu verlassen um kreuz und quer zu denken. Im Schlepptau des Autors oder auch in den offeneren Gewässern.
Marcus Steinwegs Splitter sind oft von ätzendem Humor: „Es gibt Idioten, die meinen Derrida sein erledigt, weil sie aufhören, ihn zu lesen.“ Er tritt auf Füße und in Fettnäpfchen.
Mich haben vor allem seine kurzen (vermeintlich?) paradoxen Sentenzen wachgehalten: „Warhols Oberflächenvirtuosität ist seine Tiefe“. Sätze, denen man zunächst gemütlich nickend zustimmt, bevor sie das Denken in immer neue, endlose Schleifen schicken. Weg von Warhol und irgendwann -- über Hegel und Husserl – auch wieder zurück.
Immer wieder beschäftigen sich Steinwegs Textminiaturen -- manchmal sind es nur ein oder zwei Sätze –mit Franz Kafka. Warum beispielsweise interessierte sich Kafka nur relativ wenig für die kulturellen Ereignisse und Ergebnisse seiner Zeit? Steinweg findet eine – nur vordergründig einfache – Erklärung: Kafka „hatte ein Problem. Für dieses Problem musste er die Sprache finden, eine Form. Kultur ist das Gegenteil: zur Meinung geronnene Wahrheit statt fiebrige Unruhe, die dem Geronnenen nur opponieren kann.“
Von A wie Abgrund („Intelligenz ist der Abgrund, aus dem Intelligenz befreit“) bis Z wie Zoo („Man denkt, im Zoo blicke der Mensch auf seine Artgenossen, dabei ist er der Ort, an dem sie diese Artgenossenschaft dementieren“): Steinweg biete brillante Analysen und verschafft dem Leser in 302 Lektionen ein mentales Workout, das seines gleichen sucht. Marcus Steinweg verfasst fürwahr keine wohlfeile Westentaschen-Philosophie. Aber, den einen oder anderen Splitter möchte man schon in des Einen oder Anderen Westentasche versenken. Als Stachel im Fleisch und Heilmittel gegen Borniertheit und dumpfe Stumpfheit.
Fixpoetry 2017
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben