Hypertrichose gegen Liebeskummer
Ein Mann (Karl) fährt mit seiner Ex-Freundin und ihrer kleinen gemeinsamen Tochter in Urlaub. Zurück bleibt Vic. Seine Freundin, die Protagonistin in Maren Wursters Romandebüt. Vic reagiert, wie man eben reagiert, wenn man kurz vor dem gemeinsamen Urlaub sitzengelassen wird: Sie erst traurig, dann schäumt sie vor Wut, sinnt auf Rache auf zieht schließlich mit dem Fahrrad los, um Vic und seine Ex- bzw- Schon-Wieder-Familie an der Ostsee heimzusuchen.
Maren Wurster gibt ihrer Protagonistin einen Stein ins Gepäck. Dieser Stein lässt bezüglich Vics Entschlossenheit und Gewaltbereitschaft nichts Gutes erwarten. Schon der Fund des Steins wird mit großer Zeichenhaftigkeit aufgeladen: Die Location ist ein Berliner Beach-Club. Nach dem Konsum von zwei Wodka-Cola und etwas Ecstasy wird die Szenerie märchenhaft und bedeutungsschwer: Ein geheimnisvolles Mädchen liest den Stein am Strand des Clubs in seinem Rocksaum auf. Wie Sterntaler.
Auf dem Weg zur Ostsee verändert sich etwas mit Vic. Ihr Rücken fühlt sich anders an als sonst. Ihre Wahrnehmungen schärfen sich. Sie, die mit Karls Kränkung nicht zurechtkommt, legt sich ein „dickes Fell“ zu. Im wahrsten Sinne des Wortes: Auf ihrem Rücken sprießen Haare. Verdichten sich, werden zu einem Pelz. Aus Dünnhäutigkeit wird Dickfelligkeit. Die verlassene Frau, die selbstmitleidig ihre Wunden leckt, wandelt sich. Vic isst Ameisen und verfügt über einen übermenschlichen Geruchsinn. An Karls Ferienhaus angekommen legt sich – tierhaft – in der Dunkelheit auf die Lauer.
Der Roman thematisiert mit der verlassenen jungen Frau ein triviales, und alltägliches Geschehen. Trivialität und Alltäglichkeit spiegeln sich über weite Strecken in Wursters Sprache. Dies geht bis in den Satzbau hinein: Wurster fügt staccato-artig immer wieder Subjekt-Prädikat-Objekt-Sätze aneinander. Dieses Hämmern der Sprache mag zur Wut der Protagonistin passen, zum Techno-Gewummer der Clubs, zum reduzierten Sprachstil der SMS- und WhatsApp-Nachrichten. Er führt jedoch nicht zu großer Lesefreude, was umso bedauerlicher ist, als Maren Wurster durchaus zu mächtiger und bildreicher Sprache fähig ist. Da knurrt ein Hund „als rolle er Kiesel im Maul hin und her“, drehen Finger mit „kugeligen Kuppen“ schmale Zigaretten, schauen auf der Zunge „rosige Knospen“ zwischen dem „cremigen Weiß“ eines Vanille-Eises hervor.
Dass Vic neben ihrem Fell auf dem Rücken auch das Tier in sich entdeckt, gibt der Geschichte eine neue, unerwartete Wendung. Am Ende hört sie auf, das frischgewachsene Sommerfell sorgsam zu verstecken und lässt es aus ihrem Sommerkleid hervorquellen. Vic ist nicht alleine mit ihren tierischen Attributen. Auch Timo, einer der Männer, die Vic auf ihrer Heldenreise kennenlernt, trägt zwischen seinem lockigen Haar Hörner.
Maren Wurster berichtet all dies immer wieder auch in starken Bildern. Ihre Beschreibungen sind sorgfältig, präzise und sinnlich. Die Banalität der endenden Liebesgeschichte ist jedoch immer allgegenwärtig. Sie spiegelt sich in den kurzen Textnachrichten, die Karl und Vic wechseln, und in den Rückblenden, in denen es um alltägliche Auseinandersetzungen geht. All das, was zwischen den Beiden passiert, ist schon tausend Mal geschehen und wird sich tausendmal wiederholen. Kann eine solche Story die Handlung tragen? Der erzählerische Kniff, der Heldin einen Harnisch aus Pelz umzulegen ist originell. Das Fell als Analogie zu Siegfrieds Bad im Drachenblut: Ein starkes Unverletzlichkeits-Motiv. Zweifellos. Aber ist ein solcher Vollschutz angesichts einer lapidaren Kränkung angemessen? Anders gesagt: Passt auf eine Trennung per SMS das große mythologische Programm mit märchenhaften Steinfunden und werwolfsartigen Verwandlungen?
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