„Du bist anders.“
Auf dem Weg nach Berlin, wo mit den Einbürgerungsdokumenten die Bewilligung ihrer Weiterexistenz als deutsche Staatsbürgerin wartet, sinniert die Ich-Erzählerin in Maxi Obexers Europas längster Sommer (2017) über dieses „Land“ Europa, das für viele Menschen ein Sehnsuchtsort und für fast ebenso viele unerreichbar ist. Ihr Resümee fällt ernüchternd aus: „Ich sehe nur Staaten.“
Auf zwei narrativen Ebenen werden im „Romanessay“ überzeitlich aktuelle Fragen um Identität, Grenzen und den Begriff der Heimat verhandelt. Die Handlungsgegenwart ist im ‚Sommer der Migration‘ situiert: Eine Frau reist mit dem Zug über die Alpen der deutschen Hauptstadt entgegen, als sechs junge Menschen einsteigen, die offensichtlich auf der Flucht sind. Während sie die von den Strapazen der Reise Gezeichneten beobachtet, dringt das Gefühl von Verlust und vom eigenen Fremdsein in ihr Bewusstsein: „Was sie wohl zurücklassen und dennoch ihr Leben lang bei sich tragen werden? Einiges werden sie nie wiedersehen. Darunter manches, das zum Kostbarsten wird, weil sie es zurücklassen mussten.“
Die Erzählerin ist selbst in gewisser Weise heimatlos, seit sie aus Italien zum Studium nach Berlin gezogen ist und wird sich, die Schlafenden im Blick, dieser Tatsache erneut bewusst. Die nach und nach hervorsteigenden Erinnerungen an ihre Ankunft in der Nachwendezeit bilden die zweite Erzählebene: Ob an der Universität, im Umgang mit den deutschen Behörden, in Freundschaften oder in intimen Beziehungen – ihr Rückblick birgt eine Kontinuität der Zuschreibung von Andersartigkeit.
Als Deutsch sprechende Italienerin findet sie keinen Platz im Ost-West-Schema, wird als „Südin“ bezeichnet und auch von der Lebenswirklichkeit der italienischen Provinz entfernt sie sich mit der Zeit immer mehr. Im Wissen um ihre Privilegien als EU-Ausländerin, die ihr unter anderem Reisefreiheit gewähren, ist sie doch geleitet von der Frage, was sie so offensichtlich von den anderen, den Deutschen, unterscheidet, woher diese Unterschiede kommen und ob sie zu überwinden sind. Als sie von einem Dozenten auf ihren angeblichen „Dialekt“ angesprochen wird, fühlt sie die Mühen ihres Deutschlernens, also des Sich-Einfügens, infrage gestellt. Schließlich verlässt sie schweigend den Raum.
Obwohl sie in ihrem Herkunftsland keiner solchen angehört, weiß die Erzählerin, was es bedeutet, Teil einer Minderheit zu sein und dass diese „in einer ewigen und elenden Symbiose an ihre Nationalstaaten gebunden sind“. Hier wird deutlich, wie über Sprache Teilhabe ermöglicht und letztlich auch verweigert wird. Überhaupt ist es die Stimme, die im Text eine zentrale Rolle einnimmt. Stimme als Gehört-Werden und Stimme als Mittel, ein Recht in Anspruch nehmen zu können.
Der Text fügt sich in einen Diskurs, der weiter zurückreicht als in die unmittelbare Vergangenheit: In seinem Essay Wieviel Heimat braucht der Mensch wandte sich Jean Améry gegen eine romantisch-nationalistische Vorstellung von Heimat und setzte jener ein Verständnis von Heimat als Gefühl von Sicherheit entgegen. Sprachverlust, so Améry, sei eine existenzielle Bedrohung dieses Gefühls, mithin die Erosion der Bindung an die eigene Vergangenheit. Womöglich aber, so sein Blick in die Zukunft, müssen künftige Generationen ohne Heimat „auskommen können, auskommen müssen“. Denn „[…] die neue Welt wird viel durchgreifender eine sein, als kühner Großeuropatraum sich dies heute vorstellt.“
Das Heimischwerden in der Sprache scheint der Erzählerin in Europas längster Sommer zunächst verwehrt. Selbst der Erwerb der Staatsbürgerschafft ist nicht der Weg, ihr den Status als Gleiche unter Gleichen zu ermöglichen. Das linksbürgerliche Milieu, in dem sie sich bewegt, reagiert mit Unverständnis auf ihren Wunsch, „Deutsche“ zu werden. Hier tut sich eine Grenze auf, denn neben der Sprache und dem Erwerb staatsbürgerlicher Rechte existiert darüber hinaus etwas, das nicht erlernt oder erworben werden kann – ein Umstand, über den bei allen politischen Lagern Konsens herrsche.
Auch Hannah Arendt wies in Wir Flüchtlinge darauf hin, dass der Wert eines Lebens überhaupt nur innerhalb einer staatlichen Ordnung bestimmbar wäre und dass das Recht zu Leben, das Menschen-Recht immer nur Zugeständnis und deshalb von vornherein prekär ist. Obexer illustriert, dass selbst dieses Zugeständnis vor dem Hintergrund der Ideologeme ‚Nation‘ und ‚Volk‘ nicht ausreicht, da „[...] wir von einem System kontrolliert werden, das die Erfahrungen des Einwanderns unsichtbar hält, Erfahrungen, die von so vielen gemacht werden“ und das „[…] die Gesamtheit der Eingewanderten in verschiedene Sorten aufgeteilt, mit Begriffen voneinander getrennt und über Kategorien zu ganz unterschiedlichen Menschentypen erklärt“ hat.
Der Text, dessen essayistische Qualitäten durch autobiographische Elemente beglaubigt werden, lässt das Leben als Ergebnis eines Verwaltungsaktes erscheinen: „Als bestünde ein Menschenleben aus der Summe von Dokumenten.“ Er ist eine kluge Auseinandersetzung mit der Realität eines auf Handelsverträgen basierenden, mittlerweile festungsartig abgesicherten Staatenbundes, der sich selbst gern als sozialen Zusammenschluss verklärt und in dem seit einigen Jahren beängstigende Re-Nationalisierungstendenzen herrschen.
Als die sechs Geflüchteten vom Grenzschutz aufgegriffen und aus dem Zug geführt werden, herrscht Stille, die nur kurz von der rassistischen Bemerkung einer Mitreisenden unterbrochen wird. Europas längster Sommer hält uns vor Augen, dass geografische Grenzen als politische bis in unsere Köpfe hinein wirken. So menschengemacht, wie sie sind, so wenig unveränderbar sind sie.
Fixpoetry 2018
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben