Eines Tages muss man irgendwo hin
Im ganzen Land erwachen die Frauen. Dieser erste Satz in dem Roman der amerikanischen Autorin Meg Wolitzer, Die Zehnjahrespause ist durchaus wörtlich gemeint, werden doch im Folgenden die unterschiedlichen Möglichkeiten aufgeführt, mit welchen Tönen, welcher Musik, welchen Nachrichten sich hier vor allem Mütter und Schulkinder wecken lassen. Aber vom Schluss des Romans her betrachtet, ließe sich der Satz durchaus doppeldeutig verstehen, denn die folgenden gut vierhundert Seiten erzählen von der Sinnsuche von Amy, Karen, Jill und Roberta, die alle ihre Karriere zugunsten ihrer Mütterrolle aufgegeben haben. Nun Anfang vierzig stellen sie fest, dass ihre zehnjährigen Kinder sie immer weniger brauchen und sie müssen sich eingestehen, dass ihr Leben anders verlaufen ist, als sie es sich als junge Frauen vorgestellt haben.
Der Roman ist in den USA bereits 2008 erschienen, wurde also erst 11 Jahre später von Michaela Grabinger ins Deutsche übersetzt. Der Titel der Originalausgabe lautet The Ten-Year Nap und trifft das Lebensgefühl der vier Protagonistinnen, viele Jahre verschlafen zu haben, vielleicht besser. Er spielt im Jahr 2006, 9/11 ist noch recht präsent und der Irakkrieg bildet das Hintergrundgeräusch der Handlung.
Die Frauen gehören zur urbanen New Yorker Mittelschicht, die, auch wenn es finanziell nicht jedem leichtfällt, ihre Kinder auf eine Privatschule schickt, in angesehenen Vierteln wohnt oder wie Jill nach dem Anschlag von 9/11 fluchtartig die Stadt verlässt, um in den edlen Vorort Holly Hills zu ziehen.
Aber trotz der gesellschaftlichen Gemeinsamkeiten hat jede Frau ihr eigenes Schicksal. Ihre eigenen Probleme und ihre unterschiedlichen Gründe, weshalb es ihr nicht gelingt die zehnjährige Pause zu verkürzen.
Da wäre Amy, Tochter einer feministischen Romanschreiberin. Sie hat früher mit ihrem Mann Leo in einer Rechtsanwalt-Kanzlei gearbeitet. Nachdem ihr Sohn Mason geboren war, hat sie bereitwillig ihren Job aufgegeben, obwohl sie in einer viel zu teuren Wohnung leben und ständig Geldsorgen haben. Dass Amy sich nicht um eine Arbeit bemüht, stößt bei ihrer Mutter Antonia auf völliges Unverständnis. Sie, die mit Gleichaltrigen immer noch zu frauenbewegten Kongressen geht, wird geradezu als Gegenentwurf zu den jüngeren Frauen geschildert.
Zu Amy sagte sie: »Eure Generation hätte weitermachen müssen, und zwar mit dem Motzen und dem Herrschen.«
»Zu so etwas kann man eine Generation nicht verpflichten«, sagte eine andere Frau mit einer mahnenden Handbewegung.
»Wenn sie es nicht von sich aus tun, muss man ihnen eben Feuer unterm Hintern machen.«
»Uns hat auch keiner Feuer unterm Hintern gemacht«, sagte Lee.
Letztlich bewundert Amy die berufstätigen Frauen, fragt sich, wie sie es schaffen, alles unter einen Hut zu bringen, während sie nach einem einzigen missglückten Bewerbungsgespräch alle diesbezüglichen Bemühungen aufgegeben hat.
Ihre Freundin Jill hat ganz andere Probleme. Die Schellack-Erbin hat viel mehr Geld als ihre Freundinnen. Als Schülerin und Studentin war sie äußerst erfolgreich, bis ihre Doktorarbeit nicht angenommen wurde. Kurzfristig arbeitete sie in einem Filmstudio, das aber bald geschlossen wurde. Beide Niederlagen trafen sie schwer und aus dem Gefühl heraus, zweimal versagt zu haben, hofft sie als Mutter auf einen neuen Lebensinhalt. Nachdem allerdings alle Versuche schwanger zu werden misslungen sind, beschließt sie, ein Kind aus Sibirien zu adoptieren. Und hiermit fangen ihre Probleme erst richtig an. Denn das Mädchen bleibt in seiner Entwicklung stark zurück und nicht nur Jills Doktorarbeit liegt auf Eis, sondern sie hat ihrer Tochter gegenüber auch ein Herz aus Eis.
Roberta wiederum war als Studentin ein vielbegehrtes Bohéme-Mädchen. Sie verkehrte mit Künstlern, malte vielversprechende Bilder, aber auch ihr Talent schlief ein. Inzwischen beschränkt sie sich auf Bastelnachmittage in der Schule und in ihrem Alltag gibt es niemand mehr, der Roberta noch als Künstlerin kannte. Roberta ist die Einzige, die sich mit ihrer für reproduktive Rechte eintretenden Aktivistengruppe politisch engagiert. Um Geld zu verdienen, veranstaltete sie früher Puppenspiele, das brachte sie mit ihrem Mann Nathaniel zusammen. So kommen sie recht und schlecht über die Runden, aber als dieser eher zufällig einen großen Erfolg als Puppenspieler hat und eine eigene Fernsehshow bekommt, lässt er die verbitterte Roberta nicht daran teilnehmen. Sie verlassen zwar ihre enge Wohnung und ziehen in ein denkmalgeschütztes Haus in Harlem, aber glücklich wird Roberta durch diese Wendung des Schicksals nicht.
Ja, sie würden wegziehen. Sie würde noch lange an dem Schock und der Kränkung durch den Aufstieg ihres Mannes zu knappern haben, aber sie würde ihren Neid vor ihm und den anderen verbergen, denn dieser Neid ließ sie wie ein schlechter Mensch wirken, und das war sie nicht.
Bleibt noch Karen, mit Nachnamen Yip. Sie stammt aus einer chinesischen Familie, die in San Francisco hart in einer Küche arbeiten musste. Sie hat reine Mathematik studiert, den Kopf ständig voller Zahlen und sie ist die Einzige, die als Statistische Analystin von heute auf morgen einen Job antreten könnte. Um nicht aus der Übung zu kommen und vielleicht auch um ihren immer noch hohen Marktwert zu testen, unterzieht sie sich oft irgendwelchen Bewerbungsgesprächen, um das anschließenden Jobangebot jedes Mal abzulehnen. Sie ist zufrieden mit ihrer Mutterrolle, ihr gefällt es so, wie sie lebt. Denn sie hat
ihren Job weder für ihre Söhne noch für Wilson an den Nagel gehängt. Sie wusste genau, wofür sie ihn, zumindest ursprünglich, aufgegeben hatte: für ihre Eltern, ihre Schwiegermutter und alle Verwandten in den Chinatowns von San Francisco und New York, wo es nach Fischköpfen und Sternanis roch. … Ihre Eltern, ehemalige Angestellte im »Ideal Dumpling Palace« in San Francisco, betrachteten es als ein Geschenk, dass ihre Tochter nicht arbeiten musste.
Dieses Geschenk an ihre Eltern war allerdings auch ein Vorwand, denn ganz im Geheimen stellte sie sich vor, wie es wäre, wieder zu arbeiten, aber im Verlauf der Jahre wurde dieser vage Wunsch kaum konkreter.
Dies ist das eigentlich Erstaunliche an der Darstellung dieser Frauen, die trotz ihrer zahlreichen Fähigkeiten und Möglichkeiten in ihrer Unentschlossenheit ein wenig wie aus der Zeit gefallen wirken. Anhand von Kleinigkeiten beschreibt Meg Wolitzer die vergeudete Zeit, wenn sich die Mütter einen Abend lang darüber streiten, in welcher Schriftgröße in Zukunft der Newsletter geschrieben werden soll. Dass bei solchen Gelegenheiten die Väter kaum vorkommen ist ebenfalls etwas, das aus hiesigen Erfahrungen erstaunt.
Ich denke an das Buch The Wife von Meg Wolitzer, das unter dem Titel Die Frau des Nobelpreisträgers mit Glenn Close verfilmt wurde. Darin bekommt ein Autor den Nobelpreis für Bücher, die in Wirklichkeit von seiner Frau verfasst wurden. Und ich weiß noch, dass ich absolut nicht verstehen konnte, weshalb die Ehefrau sich darauf eingelassen hat.
Müssen also alle Frauen arbeiten, um glücklich zu sein, um sich selbst zu verwirklichen. Auch darauf gibt der Roman keine eindeutige Antwort. Zwar arbeiten am Ende des Romans Amy und Roberta wieder. Amy betreut in einer Allgemeinkanzlei ganz normale Treuhand- und Nachlassfällte, eine Arbeit, für die sie nicht brannte, die sie nicht erstrebenswert fand. Andererseits freute sie sich, überhaupt zu arbeiten, auch wenn sie insgeheim ihrer Mutter recht gibt, die sie immer gedrängt hat, sich rechtzeitig etwas Passendes zu suchen.
Roberta arbeitet in Vollzeit in einem Frauengesundheitszentrum, was ihren künstlerischen Ambitionen endgültig den Garaus macht. Ihr Familienleben wird als nicht gerade erstrebenswert dargestellt: Alle sind abends erschöpft, wenn sie in ihrem vornehmen Haus zusammenkommen und können es kaum erwarten, ihre Klagen loszuwerden.
Jill bleibt eine sogenannte Schattenmutter (ein anderer Name für Nachhilfelehrerin). Auch in Zukunft wird sie ihre Tochter ständig unterstützen müssen. Aber auch Jill hat Pläne. Vielleicht wird es ihr gelingen, sich ihre Dissertation noch einmal vorzunehmen.
Die Protagonistinnen trafen sich regelmäßig in dem Café Golden Horn. Als sich ihre Wege trennen, und sie das Café nicht mehr besuchen, denkt der Wirt darüber nach, was wohl aus ihnen geworden ist:
Jetzt hatte er sie offenbar an die Welt verloren. So etwas konnte ganz plötzlich geschehen. Eines Tages wachte man auf und musste irgendwohin.
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