Lyrik als Begleitschutz?
Nach welchen Kriterien beurteilt man einen Kalender? Wenn er als Hilfsmittel im Büro oder irgendwo sonst im Alltag dienen soll, geht es wahscheinlich um Spalten- und Zeilengröße, man wünscht sich einen beweglichen Schieber, der das aktuellen Datum umrahmt und vermutlich auch, dass möglichst alle gesetzlichen Feiertage mit Hinweis auf bundeslandspezifische Einschränkungen vermerkt sind. Und dazu gibt es obendrauf am besten noch jeden Tag ein anderes süßes Foto von Welpen oder Kätzchen oder wenigstens eine nette Landschaftsaufnahme.
Der Lyrik-Taschenkalender, den Michael Braun seit 2007 für den Verlag das Wunderhorn zusammenstellt, – die ersten vier Jahre noch unter dem Titel Deutschlandfunk-Lyrikkalender – ist ein kleines, gebundenes Büchlein (mit Lesebändchen), das sich als Bürohilfe für die Organisation vollgestopfter 14-Stunden-Tage kaum eignet. Und es gibt keine Welpen. Braun lädt Jahr für Jahr, dieses Mal zusammen mit dem jungen Lyriker und Übersetzer Paul-Henri Campbell, deutschsprachige Dichterinnen und Dichter ein, zwei ihrer Lieblingsgedichte für den Kalender vorzuschlagen und kurze Kommentare zu diesen zu liefern. Die Neuerung fürs kommende Jahr 2018 besteht darin, dass erstmals auch Lyrik in Übersetzung vorgestellt wird. Russische, türkische, polnische, spanische, griechische, rumänische, persische und mittelhochdeutsche Poesie findet sich jetzt zum Beispiel. Jede Kalenderwoche gibt es für die Leserin oder den Leser ein Gedicht und den dazugehörigen Kommentar.
Dank dieser sinnvollen Öffnung kann man bei der Lektüre einige Entdeckungen machen. Safiye Can stellt etwa ( für Anfang Februar 2018) Ataol Behramoğlu vor, dessen 18zeilige "Besuchszeit" in 1982 dem Militärgefängnis Maltepe entstand:
"Mit dem Gefühl eines Vogels
Der gegen den Käfig knallt
Versucht mich mein Kind zu berühren."
Dirk Uwe Hansen hat aus dem Neugriechischen Phoebe Giannisi übersetzt, die in einem Pool-Gedicht über die Liebe mithilfe der Penelope nachdenkt. Bei Reinecke & Voß gibt es den kompletten Band Homerika. Der Kalender hilft also dabei, über den Tellerrand der deutschsprachigen Lyrik zu blicken, Eindrücke hier noch wenig bekannter Stimmen zu erhalten. Der möglich Einwand, dass nun diese Dichterin oder jener Dichter nicht eingeladen wurde, etwas auszusuchen, geschweige denn, dieser oder jene Erwählte würde die Lyrik eines Landes nicht repräsentieren, taugt nicht als Kriterium, schließlich geht es hier um keine Anthologie, die verkündet "die besten", "die wichtigsten" etc. pp. zu versammeln. Dass Viten der nicht-deutschsprachigen Dichter fehlen, ist hingegen zu bemängeln. Insgesamt fällt auf, dass der sehr begrenzte Platz im Kalender häufiger bei negativ auffällt: Von Sibylla Vričić Hausmanns Gedanken über die Liebeslyrik oder von José F. A. Olivers Ausführungen zu Federico García Lorca hätte man gerne mehr gelesen als das, was auf eine kleine, eng bedruckte Seite passt. Zudem bietet der Kalender leider auch keinen Platz, um den Übersetzungen das Original beizustellen.
Bei der Lektüre, die in meinem Fall nicht den vorgegebenen Wochen-Rhythmus befolgen kann, lässt sich keine strenge an Jahreszeiten oder einzelne historische Daten gebundene Ordnung der Texte erkennen. Und glücklicherweise auch keine nach Alter der Autoren oder Herkunftsländern. Den Beginn setzt der Dadaist Kurt Schwitters "Welt voll Irsinn" mit den Zeilen:
"Ich Du
Er sie es
Wir ihr sie,
Ein Friedhof,
Lebendige Forellensauce überlaut. [...] "
Das letzte Gedicht für die 52. Kalenderwoche ist Paul Flemings "Gedanken über die Zeit", entstanden in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Flemings wie Schwitters' Gedicht entstanden unter dem Eindruck von Kriegen eines zu ihrer jeweiligen Zeit ungekannten Ausmaßes an Vernichtung. Auch Brechts "An die Nachgeborenen" findet sich, Gryphius' "Alles ist eitel".
Der Lyrik-Taschenkalender ist glücklicherweise kein Buch zur Erbauung. Es geht nicht darum, den Frühling mit schönen Blumengedichten zu versüßen oder den Winter mit netten Versen zu erwärmen. Krieg, Gewalt, Entbehrung, Kummer werden thematisiert. Meret Oppenheims surrealisitscher Lyrik wird genauso Platz eingeräumt wie der jüngeren Generation, etwa Tristan Marquardt oder Dara-Maria Cojocaru. Ob sich konkretere Korrespondenzen in der Auswahl der eigenen Gedichte und der ausgewählten finden, ist jedoch schwer zu beantworten.
Wenn in den kommenden Jahren vielleicht etwas mehr Platz für Kommentare und Anmerkungen den Machern des Kalenders eingeräumt wird, ist der Lyrik-Taschenkalender allen zu empfehlen, die ungeachtet der Jahreszeiten, im Verzicht auf bildreiche, feingereimte Motivationsgedichte gegen das Sommerloch mit Lyrik durch das Jahr gehen wollen. Und so viel sei mit Olga Martynovas Kommentar zu Paul Fleming gegen die Gefahr des Verbrauchertums gesagt, jene Einstellung, jede Woche einen Text hinter sich lassen zu können, abzuhaken:
"Wer behauptet, dass er die Zeit versteht, irrt sich. Wer behauptet, dass er dieses Gedicht ganz versteht, irrt sich."
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