Sich verwandeln, um der Angst zu entkommen.
Ein jüdisches Mädchen mit ungewöhnlich großen Augen, Ruth Tannenbaum, wird in Zagreb zu Zeiten des Königreichs Jugoslawien zu einem Kinderstar im Theater und als „kroatische Shirley Temple“ gefeiert. Doch dann kommt der Krieg: Kroatien wird zum Vasallenstaat der Nazis, Rassengesetze werden eingeführt. Die Deportationen beginnen, und Ruth stirbt 1943 auf dem Transport ins Lager. Sie ist erst knapp 15 Jahre alt.
Das ist im Grunde genommen die ganze Geschichte, die Miljenko Jergović in seinem Roman (aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert) erzählt, der im kroatischen Original bereits 2006 erschienen ist. Ruth Tannenbaum hat ein reales Vorbild: Lea Dragica Deutsch, über die man sich etwa bei Wikipedia gut informieren kann. Doch der Autor betont in einem kurzen Nachwort auch, sein Buch sei keine Biographie und Ruth sei zwar an Lea angelehnt, aber keinesfalls mit ihr identisch. Manche der zahlreichen Romanfiguren hat Jergović dazuerfunden, an anderen Stellen hat er entscheidende Details verändert.
Die vorhandenen Fakten zu Lea Deutschs Lebensgeschichte sind eher spärlich, und so musste Miljenko Jergović in seinem Roman die Fantasie walten lassen und sich einiges ausdenken. Das ist nicht an und für sich problematisch, denn gerade davon lebt ja die Literatur. Insgesamt ist es dem Autor denn auch gut gelungen. Gleichwohl kann man sich aber hie und da des Eindrucks nicht erwehren, Jergović habe sein Buch irgendwie mit Stoff, mit Material füllen müssen. Der Autor arbeitet zudem von Beginn weg stark mit dem Zeichenhaften: Immer wieder baut er Vorahnungen ein, weist auf die nahende Tragödie hin. Das tut er hin und wieder etwas allzu deutlich – dabei wäre dies eigentlich gar nicht nötig: Die Leserinnen und Leser wissen ohnehin, was geschehen wird. Dieser Fakt müsste die Lektüre ebenfalls nicht unbedingt beeinträchtigen. Doch dominiert das Symbolische im Roman mitunter derart, dass sich der Autor letztlich auch gewisse literarische Möglichkeiten verbaut: Er hat sich beinahe ein Gefängnis gebaut, aus dem er selbst nicht mehr herausfindet.
Zu den Stärken des Buchs gehört hingegen der mitunter beißende Humor. Hier muss der Autor natürlich bei der gegebenen Thematik eine ständige Gratwanderung vollziehen, die er allerdings bravourös meistert. Beeindruckend ist im Weiteren, wie Miljenko Jergović die damalige kroatische und insbesondere Zagreber Gesellschaft porträtiert: Das sind die einfachen Menschen, die (manchmal fanatischen) Katholiken, der „Kulturkuchen“, die High Society... Hier stellt der Autor seine ganze sprachliche Virtuosität und stilistische Vielfalt unter Beweis (für die wir ihn ja von seinen früheren Büchern her mögen). Die Charakterisierungen sind zuweilen schmerzlich genau und gleichermaßen ironisch wie bitter. Im Übrigen wird selbst Ruth nicht einfach als reiner Engel dargestellt. Auch diese Figur verfügt durchaus über ein komplexes Inneres und legt ein widersprüchliches Verhalten an den Tag. Überhaupt schildert Jergović an zahlreichen Figuren sehr präzise, wie sich die Beziehungen zwischen den Menschen, etwa Nachbarn oder Verwandten, zunächst allmählich und schließlich radikal wandeln können, sobald sich die (ideologischen) Stimmungen in Politik und Gesellschaft ändern.
Man kann in „Ruth Tannenbaum“ zwei wichtige Leitmotive ausmachen: Die Angst und die Verwandlung. Bereits zu Beginn des Romans und viele Jahre vor der Geburt seiner Tochter Ruth macht Salomon Tannenbaum eine prägende Urerfahrung, die er jedoch vorerst nicht einordnen kann: Er wird verprügelt. Kurz nach dem Untergang seines „Vaterlandes“ Österreich-Ungarn begreift er nun nach und nach, dass seine persönliche Sicherheit im neuen Staat nicht mehr garantiert ist. Fortan sitzt ihm die Furcht im Nacken. Schon bald überträgt sich diese auch auf andere Menschen, und zwar beileibe nicht nur auf die Juden. Die im Roman stets anwesende Angst bildet einen eigentümlichen Kontrast zu Humor und Ironie. Dass diese Mischung funktioniert, ist Miljenko Jergović ebenfalls hoch anzurechnen.
In der Verwandlung – oder dem Verwandeln – hingegen findet die kleine Ruth früh eine Möglichkeit, dem eigenen Leben (und sei es nur auf Zeit) zu entfliehen. Das Mädchen setzt dies im Theater um, das heißt im Annehmen und Spielen von Rollen. Auf einer höheren und abstrakten Ebene geht es dabei immer auch um die Identität, um die nicht nur Ruth, sondern auch die anderen Figuren des Romans in schwieriger Zeit ringen (müssen). Als dann die Gefahr bedrohlich nahe ist, sieht Ruth nur einen Ausweg: Sie beginnt zu zaubern, um sich gänzlich zu verwandeln – und unsichtbar zu werden.
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