Mit Kafka durch die Midlifecrisis
Wenn unsere Spezies von anderen durch unsere Lust und Fähigkeit zur Veränderung unterscheidet, so nur, weil wir in der Lage sind, die Grenzen unseres Verständnisses zu erkennen und Betrachtungen über das Unergründliche anzustellen.
Auch das neue Buch von Nicole Krauss stellt unter Beweis: es gibt kaum eine*n Autor*in, die sich so sicher in der Form des Romans bewegt und allem Anschein nach mühelos erzählt. Ihre Bücher sind spannend ohne eine reißerische Tendenz, getragen durch einfühlsame, präzise und von Erkenntnissen durchzogene Formulierungen. Dabei steigern sie sich aber nicht ins Verkopfte, sondern ermöglichen jene Art von Introspektive, die die Lesenden in den Bann des Konflikts, in den Bann der konstruierten Wirklichkeit zieht.
Zunächst muss ich anmerken, dass ich vermutlich nicht der/die ideale Leser*in für dieses Buch bin. Die beiden Protagonist*innen – die eine Autorin und ein alter Ego von Nicole Krauss, der andere ein älterer Mann namens Epstein – stehen in der Mitte bzw. am Ende ihres Lebens, und es geht in diesem Buch viel um die Warte, von der man aus diesem Alter aufs Leben, seine Umstände und seine eigene Situation darin blickt. Themen sind: das Ende einer Ehe, das Aufwachsen der Kinder, das Versiegen der Kreativität (Krauss' alter Ego) bzw. letzte Wünsche, letzte Fluchtgedanken und die Rekapitulation einer Existenz, die so sehr auf sich selbst hinauslief, dass sie am Ende, als sie alles noch einmal hinterfragt, auseinanderzubrechen droht. Natürlich gewinne auch ich ein Gefühl für die Personen, aber ich kann mich nicht so stark mit ihnen identifizieren, dass eine tiefere, meine eigenen Wahrnehmung aufschneidende Bindung an diese Gefühlswelten entstehen kann; gleichwohl glaube ich, dass das Buch für viele andere Leser*innen in dieser Hinsicht ein Gewinn ist.
Beide Protagonist*innen haben eigene Handlungsstränge, die abwechselnd erzählt werden. Bei Epstein werden wir von Anfang an vor vollendete Tatsachen gestellt: er ist in Tel Aviv verschwunden. Die Frage ist, warum er, der keine starke Verbindung zu Israel, zu seinem Jüdischsein hatte, überhaupt nach Tel Aviv gereist ist. Und was hat diese Reise mit den jüngsten Entwicklungen zu tun, mit seinem plötzlichen Wunsch, sich von seinen Besitztümern zu trennen, sich von allem zu lösen. (Reiste er nach Tel Aviv, weil er letztlich, während er alles weggab, hoffte, dass er noch etwas erhalten könnte? Suchte er diese letzte Gabe, dieses letzte Geschenk in Tel Aviv?) Fließend geht eine Charakterisierung der Figur Epstein in die Schilderung seines letzten Tages vor der Abreise nach Tel Aviv über – eines Tages, der Verluste und eine religiöse Begegnung beinhaltet.
Nicole Krauss' alter Ego wiederum reist nach Tel Aviv, um in einem Hotel ein Zimmer zu beziehen, in dem sie schon früher oft gewohnt hat, und das für sie mit Bedeutung aufgeladen ist. Sie hofft hier ihren neuen Roman schreiben zu können, vielleicht sogar das Hotel zu einem der Grundpfeiler zu machen.
Doch seit ihrer Ankunft geht es leicht kafkaesk zu. Ein Mann soll, so hat sie irgendwo gehört, vor ein paar Tagen von einem der Balkone gestürzt oder gesprungen sein. Aber niemand weiß etwas davon – weder der Manager noch das Zimmermädchen. Oder weichen sie ihr nur aus? Sieht sie Gespenster? Was hat es mit Friedmann auf sich, dem Mann, der sie kontaktiert und sie unbedingt davon überzeugen will, einen großen jüdischen Roman zu schreiben? Will er sie eigentlich nur auf eine Verschwörungstheorie um Kafkas nachgelassene Schriften stoßen, die laut Friedmann einen viel größeren Umfang haben? So weit, so skurril. Aber Krauss spielt nicht nur mit dem Namen Kafka, sie schafft es mitunter geschickt, ihre Welt in die gleiche Unübersichtlichkeit zu tauchen, welche die Werke von Kafka (der ja bis zum Ende seines Lebens davon träumte, nach Israel auszuwandern) so berühmt macht.
Denn die Natur schafft nicht nur Form, sondern zerstört sie auch, und es ist das Gleichgewicht zwischen beiden, das sie so mit Frieden erfüllt. Wenn die Stärke des menschlichen Geistes jedoch in der Fähigkeit besteht, Formloses zu formen und der Welt durch die Strukturen der Sprache Bedeutung aufzuprägen, so liegt seine Schwäche in dem Widerstreben oder der Weigerung, je daran zu rütteln. Wir hängen an der Form und fürchten das Formlose: von klein auf lernen wir, es zu fürchten.
Zwei Geschichten parallel zu erzählen ist riskant – die eine könnte schließlich als Beiwerk enden oder von den Leser*innen zumindest als solches wahrgenommen werden. In der Tat ist die Geschichte Epsteins, wenn auch gut geplottet, nicht so einnehmend, irritierend und anziehend wie Krauss' Alter-Ego-Geschichte, die sich zwischen Bekenntnis und Roman einrichtet, sodass jede neue Wendung reizvolle Funken schlägt. Ich zumindest verstehe nicht ganz, warum die beiden Geschichten in einem Roman stecken und nicht in zweien.
Klar, es sind beides jüdische Geschichten und es sind beides Geschichten einer Rückkehr, die vielleicht mit der Hoffnung einer Selbstfindung gepaart sind (und „Waldes Dunkel“ ist, aus unterschiedlichen Gründen, für beide Geschichten ein guter Titel). Vielleicht hätte man sie hintereinander abdrucken können und auf den Einband „Zwei Romane“ schreiben können. Aus dem abwechselnden Zusammenspiel ergibt sich für mich nicht wirklich ein Mehrwert.
Während die Form mich also etwas unbefriedigt zurücklässt, hat es Nicole Krauss dennoch wieder geschafft, mich mit ihren behutsamen Betrachtungen und ihrem mit Zwischentönen und Unwägbarkeiten gespickten Narrativ zu fesseln. Öfter habe ich mich an manche Romane von Paul Auster erinnert gefühlt, in denen ebenso geschickt mit der Perspektive des/r personalen Erzähler*in gearbeitet wird. Durch diese Perspektive ist die Handlung gleichsam Geschichte und Zwiegespräch, was das Bewusstsein um den Fiktionsgehalt des Mitgeteilten abwechselnd verschwimmen lässt und wieder hervorhebt. Mitunter kommt man sich vor, als wäre man die einzige Zuhörerin oder der einzige Zeuge, den Nicole Krauss hat.
„Waldes Dunkel“ wirkt an manchen Ecken etwas improvisiert, schafft es aber trotz aller meiner Vorbehalte, eine durchgehende Konsistenz zu wahren. Wer nach einer gut erzählten Geschichte sucht, die Spannung und hochliterarische Tugenden miteinander verbindet, der ist mit Krauss neuem Roman so schlecht nicht beraten.
Noch zur Übersetzung: Sie ist im Grunde recht gut gelungen, einige umständliche und nicht ganz akkurate Formulierungen haben sich hier und da eingeschlichen. Es sind Kleinigkeiten, auf denen ich auch nicht zu lange herumreiten will. Ein gutes Beispiel ist, glaube ich, der erste Satz aus dem zweiten Zitat:
Denn die Natur schafft nicht nur Form, sondern zerstört sie auch, und es ist das Gleichgewicht zwischen beiden, das sie so mit Frieden erfüllt.
Natürlich ist klar, was gemeint ist. Aber müsste es nicht eigentlich „beidem“ heißen, also: zwischen dem Zerstörerischen und Schaffenden in der Natur? In jedem Fall muss im Deutschen eigentlich noch ein Wort hinter „beiden“ gestellt werden („diesen beiden Tendenzen“, „diesen beiden Erscheinungen“, „diesen beiden Dynamiken“), denn es gibt hier ja nicht zwei Dinge, sondern nur ein Ding, die Natur, die zweierlei tut. Das ist Korinthenkackerei, I know, aber man sollte diese Missverständlichkeit, die im Englischen vermutlich nicht besteht, in einer deutschen Übersetzung vermeiden, egal, wie nah man damit der wortwörtlichen Formulierung des Originals kommt.
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