Das Leben ist versalzen
Als der Istanbuler Autor Ömür Ilklim Demir im Jahr 2015 mit „Das Buch der entbehrlichen Gedanken“ sein Debüt vorlegte, überschlugen sich die Kritiker, verglichen ihn mit türkischen Kultautoren wie Emrah Serbes und Barış Bıçakçı. Tatsächlich finden sich Parallelen in Ton und Themen, aber Demir hat dennoch seine ganz eigene Stimme. Nun liegt das Buch, übersetzt von Gabriela und Mathias Müller Senti, auch auf Deutsch vor – und wieder mal ist es der auf junge türkische Literatur spezialisierte binooki Verlag, dem wir das zu verdanken haben. Ob Demirs Erzählungen auch hierzulande einschlagen? Man möchte es ihm wünschen...
Mal leise und melancholisch, mal liebevoll und mit großem Humor begleitet er seine Figuren durch ihren Istanbuler Alltag. Sie sind sympathische Verlierer, allesamt. Da ist Melda, Mitte dreißig, deren Mann an Krebs gestorben ist, und die nun mit Kontaktanzeigen eine neue Liebe sucht. In einer anderen Geschichte kreuzt sich ihr Weg mit Ihsan, der sich für so durchschnittlich hält, dass er seine Wege lieber alleine geht und dabei die Menschen auf der Istiklal Caddesi beobachtet – ohne zu wissen, dass einer in der grauen Masse tödliche Absichten hat. Man begegnet dem „Palastbewohner“, der in einem Krankenhaus und ohne Erinnerungsvermögen seine Tage fristet und seinen Pfleger immer wieder vor einem Geist warnt, bis der selbst Stück für Stück verrückt zu werden droht. Es gibt den Obdachlosen Resim und seinen dreibeinigen Hund, der einem anderen Mann ein neues Leben schenkt, nachdem dieser alles verloren hat. Es gibt den Jungen, der bei einem Unfall beim Fußballspielen komplett entstellt wurde.
Ömür Ilklim Demirs Geschichten drehen sich um Außenseiter und schräge, eigenwillige Charaktere, die an der Welt verzweifeln und auf der Suche nach Hoffnung sind. Zwei Motive ziehen sich durch alle Texte: Ein Lichtschimmer und eine Prise Salz. Für die einen gibt es Erfahrungen, die dem Leben eine Prise Würze geben, das Leben von Demirs Figuren ist kräftig versalzen. Was einem an Unglück zustoßen kann, das ziehen sie magisch an – oder glauben das zumindest. Bis es unverhofft an der Tür klopft. Oder bis ihnen jemand eine Zigarette anbietet und sich hinter der nächsten Straßenecke eine neue Welt auftut.
Demir war, bevor er erste Beiträge in Literaturzeitschriften veröffentlichte, Strafanwalt und Werbetexter. Er kennt die Untiefen der Gesellschaft, und seine Erzählungen sind großartige Kleinode, die diese Untiefen ausleuchten. Wer sie liest, wird seine Mitmenschen mit anderen Augen sehen und sich ganz automatisch fragen, welche Geschichte hinter ihnen steckt.
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