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Heimat verhandeln V&R böhlau
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Heimat verhandeln V&R böhlau
Kritik

Mit Richmanns Augen Deutschland sehn / schon ist es ums Nationale geschehn.

Da steht einer vor Deutschlands Dummheit und denkt um die Ecke
Hamburg

oh tempora, oh mores, oder scheiß auf die Sitten, weil ständig die Gefahr besteht, sie mit dem Grundlegendsten zu verwechseln.

Um es gleich zu Anfang klarzustellen: dieses Buch parliert viel vor sich hin; intelligent, interessant, gescheit und hochgeistig, pointiert und versiert, leichthändig, aber dennoch: Es ist ein Buch, das zutextet, mitunter sogar schlicht runterrattert, aufsagt, was es unterbringen will, ein Buch das referiert und aus dem kleinsten Fakt noch eine Kolumnen-Anekdote macht. Alles schön gewandet, manchmal abgeflacht, dann wieder spitz zulaufend, aber alles in allem: ein Buch, das von einer Erwähnung und Breittretung zur nächsten hopst und dabei an der Sprache turnt.

So, alle potenziellen Leser*innen sind vorgewarnt, dann kann es ja losgehen.

aber die Aufgeladenheit der Dinge entsteht eben aus den Koordinaten ihrer Geschichte und der Gegenwart daraus folgender Embleme.

Man hat ja derzeit das Gefühl, dass jeder was zu Deutschland zu sagen hat. Ich frag mich immer, ob das früher auch so war, ob man das Stichwort Deutschland unter Politikern, Intellektuellen und anderen Meinungsgrößen ähnlich inflationär gebraucht hat; wie schnell nach dem Mauerfall ging es los, dass man von Deutschland wieder so gesprochen hat, wie man heute von Deutschland spricht, im Hinblick auf Tradition, Wirtschaft, Kultur, etc. Vermutlich eine dumme Frage, denn vermutlich war es früher nicht anders, vielleicht ist es seit Lessings Zeiten nie anders gewesen. Wahrscheinlich geht mir das permanente „Deutschland, Deutschland, Deutschland“ mittlerweile einfach auf die Nerven, weil ich mich für aufgeklärt halte, mich über jegliche politische Dimension erhaben fühle.

In Pascal Richmanns Buch geht es um einige Koordinaten der deutschen Geschichte und die seltsamen Formen der Embleme, die sich darauf aufgebaut haben, darauf gefolgt sind. Er reist herum, wird z.B. mal in der Nähe der Wartburg gesichtet, vor dem Stadion von Red Bull Leipzig und auf Helgoland. Und eine Zeit lang wohnt er auf einer Autobahninsel (genannt „Ei“) und liest Jonathan Franzens Buch über Kraus. Oft mit dabei auf den Reisen sind entweder Enis oder Nils oder Ben - Freunde und Liebste ihres Zeichens nach - und Heinrich Heine hält zu Anfang als Aufhänger her und baumelt auch sonst dann und wann ins Bild.

Und so vergehen die Seiten, während Richmann feinsäuberlich Scheiben von der deutschen Wirklichkeit schneidet, die (Gesinnungs-)Landschaften der Dummheit freilegt, die überall anzutreffen sind, und vor vielen Denkmälern und Statuen steht, die, allzu geschichtsvergessen, einer Vielzahl von Idioten gewidmet wurden. Ein Zitat von Heinrich Heine könnte Pate stehen für den Eindruck, um den das Buch ständig kreist:

die Welt bleibt nicht im starren Stillstand, aber im erfolglosesten Kreislauf

So kreist Richmann fortwährend um deutsche Befindlichkeiten und schnippt Erschreckendes und Heiteres ins Blickfeld. Ich habe mich etwas an Marcel Beyers jüngstes Buch „Das blindgeweinte Jahrhundert“ erinnert gefühlt – auch so ein Buch, wo man nie genau weiß, ob man sich gerade in einer Argumentation, einem Wahrnehmungsfluss, einer sarkastischen Spitze, einer Eruierung, einem Protokoll oder einer Zementierung befindet. Hat man sich einmal mit diesem Stil abgefunden, kann es unterhaltsam zugehen, allerlei lässt sich erfahren, über so manche Kuriosität, manche Erläuterung und Grundierung der Zusammenhänge, kann man nur staunen. Oder lachen, vielleicht.

Doch nur selten erreicht das Buch eine Dynamik, die tiefer steigt als bis zum nächsten Treppenwitz der Weltgeschichte. Quellen und Hintergründe, Aufgelesenes und Hintersinniges, derlei gibt es hier reichlich zu begutachten. Aber die glatte, sorgfältig abgedeckte, ununterbrochen bespielte Oberfläche durchstößt der Text nur selten; hauptsächlich dann, wenn er sich mal aus dem Fenster lehnt:

Ich möchte, dass es dauerhafte, unbewegliche, unantastbare, unberührte und fast unberührbare, unwandelbare, verwurzelte Orte gibt; Orte, die Empfehlungen wären, Ausgangspunkte, Quellen: solche Orte gibt es nicht, und weil es sie nicht gibt, wird der Raum zur Frage, hört auf, eine Gewissheit zu sein, hört auf eingegliedert zu sein, hört auf, angeeignet zu sein. Der Raum ist ein Zweifel: ich muss ihn unaufhörlich abstecken, ihn bezeichnen.

Zum Beispiel in diesem Abschnitt, wo kurz und knapp eine ungeheure Problematik dargestellt und verhandelt wird. Denn obgleich Heimat ein sehr problematischer Begriff ist und Veränderung, wie die Binsenweisheit uns vorsagt, notwendig und unumgänglich ist, ist es doch auf der Gefühlsebene oft so, dass man sich schon wünscht, dass etwas bleibt, dass sich die Dinge nicht zu schnell verändern - damit man das Vergehen nicht allzu sehr spürt und ihm nicht ausgeliefert ist. Wir sind einem ganzen Universum ausgeliefert und außerdem der Tatsache, dass wir es eines Tages unverrichteter Dinge wieder verlassen müssen. Da kann man sich schon mal wünschen, dass es Orte gibt, an denen wir weniger ausgeliefert sind und sei es nur die Kneipe, in der man immer die Bundesliga schaut oder die Familie, die zusammenhält oder eine Gemeinschaft oder ein Gebiet, in dem die eigenen Überzeugungen und Ideen gelebt werden können. Ich behaupte, dass nahezu jeder nach solchen Orten sucht, auch wenn es Leute gibt, die flexibler sind und Leute, die es eher nicht sind.

Dieser Wunsch nach Vertrautheit ist menschlich, auch wenn viele darauf aufbauende Traditionen und Ängste ignorant sind. Wenn Richmann den Finger auf solche Probleme legt, werden seine essayistischen Havarien mit einem Mal zu luziden Blaupausen der Problematiken, die im Zeitgeistigen Tieferliegendes freilegen.

Ähnlich brillant ist zum Beispiel ein Erzählstrang über die schon längst als Fälschungen entlarvten „Protokolle der Weisen von Zion“, der den Verlauf ihrer Aufrechterhaltung als Geschichtsdokument und insgesamt die ewige Wiederkehr rechtsideologischer Argumente aufzäumt.

Alles bloß hasserfülltes ideologisches Sampling, jeder Erzählstrang des Hasses ein neu variiertes Zitat.

In solchen Momenten liest man das Buch aufmerksam, dann sprühen auch schon mal die Funken; dann hat man etwas an der Hand, man hat eine Geschichte. Die einem im übrigen Text schon mal verlorengeht. Da kann der Autor hinten auf dem Buch noch so prominent als idealer Erzähler gelobt werden.

Warum über Deutschland schreiben? Diese Frage zumindest beantwortet Richmann indirekt schon: weil hier noch jede Menge unaufgearbeitet ist, weil auch die jetzigen Entwicklungen in einem größeren Kontext gedacht werden wollen und sollten; ein Kontext, der mit den vielen Geschichten dieses Landes eng verwoben ist. Die alltägliche Sicht auf die Geschichte Deutschlands hat viele blinde Flecken und gerade in diesen Winkeln wuchert die Ignoranz und das vermeintliche Kulturgut sehr gut vor sich hin; oft vor aller Augen, wie Richmann aufzeigt. Wer sich mitnehmen lassen will auf eine unordentliche Reise zu den blinden Flecken Deutschlands, der greife zum goldenen Buch über Deutschland. Alles ist das nicht, aber es ist verdammt noch mal ein Anfang. Ein Versuch. Über Deutschland.

Jetzt habe ich oft genug das Wort "Deutschland" geschrieben. Jetzt trink ich eine Fanta. Zum Wohl!

Pascal Richmann
Über Deutschland, über alles
Hanser Verlage
2017 · 328 Seiten · 20,00 Euro
ISBN:
978-3-446-25652-1

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