Zwischen Zensur und Deutungsmacht
Wer glaubt, bei den sogenannten Fake News handle es sich um ein Phänomen unserer Zeit, wird bei der Lektüre der Neuauflage von Peter de Mendelssohns Klassiker „Zeitungsstadt Berlin“ eines Besseren belehrt. So ließ bereits Friedrich der Große im Jahr 1767 die völlig frei erfundene Nachricht eines heftigen Orkans über Potsdam medial verbreiten, um von den Gerüchten, ein neuer Krieg stünde bevor, abzulenken. Der vermeintliche Orkan, von dem selbst die Potsdamer kein Lüftchen mitbekommen hatten, sorgte in Berlin und Umgebung tagelang für Gesprächsstoff. Als die Menschen den Bluff bemerkten, waren sie belustigt oder verärgert – aber vom Krieg sprach in den kommenden Tagen kaum noch jemand. Der König hatte mit einem simplen Trick sein Ziel erreicht. Da die damaligen Zeitungen, in diesem Fall die „Vossische“ und die „Spenerische“, vorwiegend der Verbreitung von Regierungsmitteilungen dienten, hielt sich der dafür erforderliche Aufwand in Grenzen. Bis zur Abschaffung der Zensur sowie der Entstehung einer unabhängigen und – wenngleich mit Einschränkungen – kritischen deutschen Presse sollte es noch gute 100 Jahre dauern.
Den Weg dorthin kann man in de Mendelssohns Buch in großer Detailtiefe nachverfolgen. Die erste Ausgabe (erschienen 1959) reichte vom frühen 18. Jahrhundert bis in die unmittelbare Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als sich aus den Trümmern der Zerstörung die frühen Anfänge einer neuen Zeitungslandschaft abzeichneten. De Mendelssohn selbst war als Presseoffizier der britischen Armee an dieser Entstehungsphase aktiv beteiligt. In den 1920er Jahren hatte er bereits als Journalist in Berlin für die Blätter aus den Häusern Mosse und Ullstein geschrieben. 1933 hatte er Deutschland verlassen und war über Wien und Paris nach London gegangen, wo er die britische Staatsbürgerschaft angenommen hatte. Das Erscheinen einer erweiterten Neuauflage seines Buches 1983 hat de Mendelssohn nicht mehr erlebt; er war wenige Monate zuvor gestorben.
Die jetzt bei Ullstein veröffentlichte Ausgabe orientiert sich an der Fassung von 1983, erweitert um ein Nachwort von Lutz Hachmeister, Leif Kramp und Stephan Weichert, die darin den sukzessiven Übergang vom Printjournalismus zur digitalen Verbreitung von Nachrichten und Meinungen skizzieren.
Wie bereits der Titel verrät, handelt es sich bei „Zeitungsstadt Berlin“ um eine Regionalgeschichte. Gleichwohl ist damit der Anspruch verbunden, Entwicklungen und Mechanismus des Pressewesens aufzuzeigen, die weit über Berlin hinausreichen. Ob es sich bei Berlin einst wirklich um die weltweit führende Pressestadt handelte, wie de Mendelssohn behauptet, wird von Hermann Rudolph in seinem Vorwort zu Recht angezweifelt. Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass Deutschland bei der Entstehung des Pressewesens, und das gilt nicht nur für dessen Anfängen, sondern den gesamten weiteren Verlauf bis heute, stets etliche Jahre hinter den Entwicklungen in anderen Ländern – allen voran in der angelsächsischen Welt – zurücklag. Während sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts die deutschen Zeitungen mühsam aus dem direkten Einflussbereich von Regierungen und Parteien zu befreien suchten, blühte in London bereits eine Presselandschaft, die ein Millionenpublikum erreichte und sich selbstbewusst als „vierte Gewalt“ im Staat definierte. Ähnliches lässt sich mit Blick auf die Gegenwart beobachten, wenngleich die maßgeblichen Impulse für die (digitale) Medienentwicklung nicht länger aus Großbritannien, sondern aus den USA kommen, und FAZ & Co. auch Jahre nach dem Eintritt ins digitale Zeitalter noch nach einem tragfähigen Geschäftsmodell für ihre Printausgaben suchen.
De Mendelssohns Buch ist in erster Linie eine Ereignis- und Entwicklungsgeschichte des Berliner Zeitungswesens. Mit großer Akribie und einem teils unfassbaren Detailwissen wird das Entstehen (und bisweilen der Niedergang) bedeutender Berliner Blätter von der „Vossischen Zeitung“ bis zu den Blättern der Springer Presse nach 1945 nachgezeichnet. Wer auf eine moderne Wirkungsgeschichte der Medien gehofft hat, wird hingegen enttäuscht. Phänomene wie die gegenseitige Wechselwirkung von Medien und Politik werden nicht beleuchtet; dasselbe gilt für den seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbreiteten Anspruch von Zeitungsmachern, als gestaltende Akteure und nicht lediglich als Beobachter am politischen Geschehen teilzuhaben. Dieser „Mangel“ ist freilich nicht de Mendelssohn anzukreiden, sondern der Zeit geschuldet, in der er sein Buch geschrieben hat. In der Frühphase der Bundesrepublik standen die – übrigens bis heute sehr bescheidenen – Instrumente der Medienwirkungsforschung schlicht noch nicht zur Verfügung.
Der derzeitige Begriff der Lügenpresse basiert maßgeblich darauf, dass bestimmte Gruppen in der Gesellschaft ihre Ansichten in den gängigen Medien nicht mehr wiederfinden. Und tatsächlich ist die Meinungsvielfalt in den Medien zurückgegangen. Man muss bei den politischen und gesellschaftlichen Debatten verstärkt auf die Nuancen achten, um etwa die Unterschiede zwischen tendenziell konservativen und eher progressiven Blättern auszumachen. Was freilich nicht bedeutet, dass sie nicht existieren, wie jüngst die Debatte um die „Ehe für alle“ gezeigt hat. Dass es sich dabei jedoch nicht um eine Schwäche der deutschen Presselandschaft, sondern vielmehr um eine zivilisatorische Errungenschaft handelt, zeigt der Vergleich mit den 1920er Jahren. Oder auch die Debattenkultur (wenn man das überhaupt noch so nennen kann) in zahlreichen sozialen Medien des Internets. In beiden Fällen hat man es mit einer medialen Eigendynamik zu tun, deren vorderstes Ziel nicht selten die Diffamierung und Verleumdung derjenigen ist, die anderer Meinung sind. Wer also pauschal die vermeintliche Langeweile und Stromlinienförmigkeit der etablierten deutschen Medien kritisiert, sollte zwei Dinge tun: Zum einen, sich die Mühe machen, der – durchaus vorhandene – Heterogenität in der veröffentlichten Meinung etwas genauer nachzuspüren. Und sich zum anderen daran erinnern, wohin eine pauschal gegen das System gerichtete, vom Ressentiment getriebene Berichterstattung führen kann. Nicht zuletzt um unseren Blick dafür zu schärfen, lohnt sich die (erneute) Lektüre von Peter de Mendelssohns Klassiker über die „Zeitungsstadt Berlin“.
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