Phantasie und Zeugnis
Das Ineinander von Krieg und Frieden in seinem Gesamtwerk sinnfällig zu machen, ist das zentrale, wenn auch nicht eigens benannte Hauptanliegen von Peter Handkes Stockholmer Rede zur Verleihung des Literaturnobelpreises. Seine Schlußfolgerung geht dahin, daß er es sich als Schreibender zur Aufgabe gemacht habe, im Sinn des Friedens zu wirken. Offen bleibt dabei erstens, wie solches zu leisten ist, und zweitens kann das Vorhaben aufgrund wechselnder Umstände sich nicht immer von verbalen Kämpfen fernhalten. „Der ewige Frieden ist möglich“, heißt es (mit Anspielung auf Immanuel Kant) im Monolog der Nova am Ende von Handkes dramatischem Gedicht Über die Dörfer, aus dem er in Stockholm ausgiebig zitierte. Eben dieses Nachwirken der Kriegserfahrung noch in den friedlichsten, formenverliebten Texten habe ich 2011 in einer Doppelrezension, die eine kleine Gelegenheitsschrift und ein episches Flanierbuch zum Gegenstand hat, nachzuzeichnen versucht. Eine Rolle spielt dabei auch die sogenannte „Serbenfreundlichkeit“ des Autors. Der deutsche Journalist Eckart Spoo interessierte sich 2013 für das Schicksal von Dragoljub Milanovič, dem ehemaligen Direktor der serbischen Radio- und Fernsehanstalt, dessen Schicksal sich Handke zum Anliegen gemacht hatte. Spoo erhielt von Milanovič eine längere Nachricht, die so beginnt: „Seitdem ich meine zehnjährige Haftstrafe bis zum letzten Tag verbüßt habe, bin ich jetzt arbeitslos. Niemand bietet mir eine Stelle an, und für die Rente erfülle ich noch nicht die Voraussetzungen...“
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In seiner Rede zur Verleihung des Ehrendoktorats der Universität Klagenfurt zitierte Peter Handke im November 2002 den französischen Widerstandskämpfer und Dichter René Char, von dem er, Handke, zwei Jahrzehnte zuvor eine Gedichtauswahl übersetzt hatte. In Klagenfurt erwähnte er aber nicht Chars Rückkehr stromauf, sondern einen anderen Band des Dichters, nämlich Zorn und Geheimnis, um die Zusammengehörigkeit der beiden Wörter und der entsprechenden Haltungen zu unterstreichen. „Zuerst, als du jung warst, hast du die Poesie den Tatsachenberichten, der kruden Historie vorgezogen“, sagte Handke damals im öffentlichen Selbstgespräch. „Und jetzt, als älterer Mensch, bist du versucht, wieder die kruden Tatsachengeschichten, wie die der Kärntner Partisanen, auszuspielen gegen das dichterische Sich-Ausdrücken.“ An der Verbindung von beidem versucht sich Handke nun seit Jahren, wobei die Leser seiner frühen Werke überrascht sein mögen über die Vehemenz, mit welcher der Dichter sich immer wieder um die krude Wirklichkeit bemüht. Eine weitere Formulierung jenes Konflikts zwischen Dokumentation und Poesie, findet man in Immer noch Sturm (2010), dem dramatischen Gedicht, das die Geschichte der slowenisch-kärntnerischen Partisanen aufgreift, nicht um sie in einem geradlinigen Tatsachenbericht nachzuerzählen, sondern um sie mit Gedanken, Phantasien und Bildern gleichsam zu umschwänzeln und auszuschmücken. Die zu den Partisanen in die Berge gegangene Tante des Autors – Handkes Familiengeschichte steht im Hintergrund, aber das Erzählte ist durchaus Fiktion – sagt zu ihrem Bruder Gregor, dem sanftmütigen Obstbauern, der die romantischen Gedichte eines France Prešeren nicht preisgeben will:
„Unsinn! Reime und Romane sind für die kämpfende Truppe keine Literatur. Es ist eine Zeit, zu weinen und weich zu werden durch schöne Verse, und es ist eine Zeit, hart zu werden und auf Linie einzuschwenken kraft einer Sprache, die andere Saiten aufzieht. Es ist eine Zeit für das Geheimnis, und es ist eine Zeit für den Klartext.“
Solch strikte Trennung, hier Klartext, dort schöne Verse, hat Handke für sich nie hinnehmen können. Seine zur Zeit der Jugoslawienkriege verfaßten Texte haben etwas von Kampfschriften, und dennoch enthalten sie Passagen poetischer Weltbeschreibung, die zuweilen sogar idyllisch geraten (was dem Autor reflexartig immer wieder vorgeworfen wurde), ja sie zielen darauf ab, diesen Passagen die Vorherrschaft zu sichern. Wenn es ums Kämpfen geht, ist Handke stur – „unbelehrbar“, wie er selber schreibt. Auf die Jugoslawienschriften der neunziger Jahre, in Kriegszeiten und mit persönlicher Betroffenheit verfaßt, folgten eine Reihe weiterer, größerer und kleinerer, Schriften zum Thema, zuletzt Die Kuckucke von Velika Hoča (2009) und nun Die Geschichte des Dragoljub Milanovič (2011). Diese handelt vom ehemaligen Leiter der serbischen Radio- und Fernsehanstalt, der seit etwa zehn Jahren im Gefängnis sitzt, und zwar zu Unrecht, wie Handke berichtet. Die Verurteilung sei allein durch den Druck der „Siegermächte“, also der NATO, bedingt. Die Sieger schreiben nicht nur die Geschichte, sie bestimmen auch, was wirklich ist und was nicht. Demgegenüber versucht der Autor mit seinen bescheidenen Kräften, zu denen Erzählgenauigkeit und Vorstellungsvermögen, aber auch Ironie und Sarkasmus gehören, eine Gegengeschichte und Gegenwirklichkeit zu konstruieren. Konstruktion oder Wiederholung – das zweite Wort in jenem emphatischen Sinn verstanden, den Handke ihm gab. Konstruktion oder doch lieber, im herkömlichen Sinn, Tatsachentreue? Darüber muß hier nicht entschieden werden. Ich weiß nicht, wer recht hat, die mächtige NATO und ihre Massenmedien oder der machtlose Dichter, obwohl meine Sympathien naturgemäß zur Seite des Einzelkämpfers gehen. Handke zufolge hat Milanovič nichts Schändliches getan. Zeitungsartikel berichten von Handlungen des Fernsehmannes, die in Handkes Bericht nicht vorkommen, aber ich bin keineswegs bereit, ihnen aufs Wort zu glauben. Belogen und getäuscht worden sind wir von der Kriegspropaganda in den letzten Jahren oft genug. Handkes Wille, Zeugnis zu geben und zu dokumentieren, bekundet sich in seinen Besuchen beim Häftling Milanovič wie auch im rückblickenden Bericht über seinen Besuch in Belgrad Ende Mai 1999, einen Monat nachdem der serbische Fersehsender zerstört und sechzehn Mitarbeiter getötet worden waren (was man Milanovič und nicht dem Bombenwerfer und seinen Befehlsgebern zur Last legte).
Handke bringt die Tatsachen erneut aufs Tapet, er läßt nicht locker. Seine Sturheit gehört zum Dichterberuf wie die Empfänglichkeit für die vielfältigsten Eindrücke in Kriegs- und Friedenszeiten. In Handkes Werk ist eine „Grundwut“ zu spüren, wie er im Gespräch mit Peter Hamm sagte, und zugleich eine Grundscham, die den Sinn für das Geheimnis schärft und den Schreibenden zögern, Fragen stellen, Umwege nehmen läßt. In sarkastischen Szenarien gehen Zorn und Phantasie eine seltsame Verbindung ein, etwa wenn die beiden ehemaligen Oberbefehlshaber Clinton und Blair sich um die Verteidigung des bedauernswerten Ex-Fernsehchefs Sorgen machen, Honorare spenden – hunderttausend Dollar pro Vortrag: Phantasie oder Realität? – und sogar zum griechisch-orthodoxen Christentum konvertieren. Blair wolle sich, so Handke, umtaufen lassen, „wobei er als Ganzer, samt Kopf und Kragen, unter Wasser getaucht werden soll.“ Was dieses Detail, diese Wortwahl zu besagen hat, verschließt sich mir. Hat hier die Wut – „Kopf und Kragen“ – über die Stränge geschlagen, wie es Handke in mündlichen Auseinandersetzungen manchmal zustößt?
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Die Wut ist nicht nur in dieser Halbdokumentation zu spüren, sondern auch in einer vergleichsweise ruhigen, friedfertigen, vor allem aber viel größeren, weiteren Erzählung wie Der Große Fall zu spüren. Klartext und Poesie sind, wie gesagt, ineinander verflochten. Der Fußgeher – Flaneur, Wanderer, Pilger – auf seinem Weg von der Vorstadt in die Metropole gerät immer wieder in Gefahr, zum Amokläufer zu werden, und ein Teil seiner Beobachtungen gilt den „Nachbarnkriegen“ zwischen scheinbar zivilisierten Stadtbewohnern, aber auch den Zeichen von Kriegen, von „Eingriffen“, „Interventionen“, „Reaktionen“, wie es mit entlarvenden Anführungszeichne heißt, von Kriegen also, die zwar nicht in der Weltstadt, aber nicht gar so weit entfernt geführt werden, wie derzeit die Angriffe gegen einen „dortigen Machthaber“, den Staatspräsidenten von Libyen. Auch in diesen Passagen des Großen Falls steckt einiges an Sarkasmus, etwas verhaltener zwar als im Nachkriegsbericht, aber mit derselben Dynamik, die tatsachennahe Beobachtungen zur Kenntlichkeit verzerrt. Zielscheibe ist in diesem Fall der französische Staatspräsident, ohne daß sein Name (oder auch nur der seines Landes) genannt würde. In seiner Rede zur Rechtfertigung der aktuellen „Intervention“ läßt sich der tatendurstige Staatsmann zu religiösen Beschwörungen hinreißen. „Die Geschichte verlangt ihr Recht und hat ihren gottgewollten Gang zu gehen. Gott helfe uns dabei! Unser Gott ist groß. Großer Gott, wir loben dich...“ Das Kirchenlied verschmilzt hier mit der islamischen Formel, und der Handkesche Schwung, dem des Staatsmannes ebenbürtig, kommt auf literarischen Wegen zu der heute eher gängigen Aussage, zwischen christlichem und islamischem Fundamentalismus bestünde eine tiefe Verwandtschaft. Die Attentate des norwegischen „Christen“ in Oslo (Juli 2011) scheinen diese Aussage zu bestätigen. Von den potentiellen und aktuellen Amokläufern in Handkes Werken – von Josef Bloch (Die Angst des Tormanns beim Elfmeter) über den „Chinesen des Schmerzes“ bis zum Schaupieler in Der Große Fall – unterscheidet sich dieser Mann allerdings durch die nüchterne Planung und kaltschnäuzige Durchführung seiner Taten. Handkes Amokläufer sind Affekttäter, sie realisieren Möglichkeiten, die in den allermeisten von uns schlummern: „Krieg gegen die Welt“ – eine Welt, die wir zeitweise nicht mehr ertragen.
„Mein Schauspieler“, wie ihn der Autor liebevoll nennt, sorgt sich die meiste Zeit um die Welt, er läßt ihr gegenüber Aufmerksamkeit walten und ist dankbar für das, was sie ihm gibt. Er sorgt sich auch und besonders um einzelne Menschen, um Außenseiter und Obdachlose, Narren und Verrückte, denen er sich nahe fühlt, und zuletzt und zuerst um seine Angehörigen, um seinen Sohn, den er gefährdet weiß. Nicht zum Zerstörer, sondern zum Retter fühlt er sich im Grunde berufen, doch seine Rettungsversuche wirken hilflos, er weiß nicht so recht, wohin mit seiner Sanftmut, seinem Gut-Sein. Der taglange Gang des Helden von der Peripherie ins Zentrum wird zuletzt als „sanfter Lauf“ benannt, was einen Stifter-Leser unweigerlich an das „sanfte Gesetz“ denken läßt. Die Sanftmut ist aber, wie schon gesagt (und wie bei Stifter), von der fallweise durchbrechenden Wut nicht zu trennen.
Letzten Endes ist Der große Fall aber keine Streitschrift, sondern ein kleiner, in sich gerundeter Versuch des Autors, ein weiteres Stück im Mosaik dessen zu schaffen, was er als Friedensepik definierte. Ein weiterer Versuch eines geglückten Tags, der den Horizont eines glückenden Lebens aufscheinen läßt. Es überrascht nicht, daß sich Handke dabei von der Natur leiten läßt und auf Schönheit aus ist. Ästhetische Reflexion hat in diesem Buch nicht allzuviel Raum, aber eine Passage erinnert stark an das Programm, das sich Handke mehr als drei Jahrzehnte zuvor in Die Lehre der Sainte-Victoire gegeben hatte. „Und das betont Unschöne war, wieder im Unterschied zu dem und der im Schauspielerberuf, nicht seine Sache.“ Wie schon früher die Helden seiner Flaniergeschichten ist auch der namenlose Schauspieler ein mehr oder minder autornahes Alter-Ego. Könnte es sein, daß Handke hier, mit erkennbarem Respekt für die auf das Unschöne, Ekelhafte, Destruktive spezialisierten KollegInnen, seine Position auf der Landkarte der Gegenwartsliteratur zu umreißen versucht? „Und vielleicht drängte es ihn doch allein nach dem Schönen?“ Das Fragezeichen hinter einem Satz wie diesem verweist darauf, daß sich Handke in seinem Spätwerk einer produktiven Unsicherheit befleißigt. Produktiv insofern, als sie Fragen und Antworten erzeugt und jede Teilantwort neue Fragen im Schlepptau führt. Die Unsicherheit scheint im Lauf der Zeit zum ästhetischen Prinzip geworden zu sein, das die Erzählung voranbringt, aber auch das Gehen, das Pilgern und letztlich – das Leben antreibt. „In die Stadt, wohin sonst?“ Doch einmal eine Gewißheit, aber sogleich mit einem Fragezeichen versehen. Und tatsächlich entdeckt der Schauspieler im Weltstadtzentrum wiederum das Abgelegene, die Natur, die Provinz, aus der er gekommen ist. Die „Schneise“ einer „ganz anderen Weltgegend“; eine Ursprungsenklave mitten in der Weltstadt. Außerdem das bezugsreiche „Antlitz“ – Wort mit geistlichem Beigeschmack – einer Frau in der anonymen Menge der Einsamen; das Antlitz seiner Frau, die er zunächst für eine Anonyme hält (und die im Übrigen, so wie er selbst, namenlos bleibt).
Der Gedanke an die Frau ist einer der ersten am Tag des Großen Falls gewesen, und auch am Ende der Erzählung steht ihr Bild. Durch Handkes Werke geistert die Idee, daß uns – die Männer, aber vielleicht auch die Frauen – das Ewigweibliche hinanziehen, also retten könne. Andererseits führen Geschlechterbeziehungen bei Handke immer wieder zu kriegsähnlichen Auseinandersetzungen, und auch Der Große Fall vermittelt anfangs eher Skepsis gegenüber allen Formen von zwischenmenschlicher Vereinigung. Der Schauspieler liebt die Frau nicht, und doch ist er seit langem mit ihr zusammen, und sie scheint sich damit zufrieden zu geben. Am Ende des Tags, als es auch für den Schauspieler, der doch immer genug Zeit hat, ein wenig spät wird, ist er zwar nicht zur Liebe bekehrt, die Erzählung atmet aber dennoch, bevor es zum Großen Fall kommt, von dem wir nicht mit Sicherheit sagen können, worin er besteht – Sündenfall oder Tod, epileptischer Anfall oder gar ein Fall nach oben -, die Erzählung atmet etwas wie Zuversicht. Die Ambivalenz aber läßt sich nicht auflösen, sie herrscht noch unmittelbar vor dem Fall, die Liebe ist ein Kampf „bis aufs Blut“, sie ist der intimste Nachbarnkrieg, doch wider alle Logik gibt es eine Art von Gnade, irgendein „Dritter“ erbarmt sich und renkt die beiden, die wohl durch eigenes Verschulden „ausgerenkt an Leib und Seele“ waren, wieder ineinander ein. Ein versöhnliches, ein glückliches Ende – oder eher: eine nächtliche Phantasie, die den Zwiespalt der Erdentage nicht heilen kann.
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