Der Gegenwart Vorangestelltes
Das bis April 2019 bestehende Kollektiv NAZIS & GOLDMUND beschrieb seine Arbeit wie folgt: "Wir arbeiten mit Sprache, die wir auffinden. Sprache, die unmerklich fallen gelassen wird. Sprache, die aufdringlich durch Räume hallt. Sprache, die Spuren hinterlässt. Sprache, die glänzt, die sich abtragen lässt in Schichten, abkratzen, freilegen, freistellen, verschieben."
Sandra Gugić war Teil dieses für zweieinhalb Jahre bestehenden Kollektivs, und ihr Lyrikdebüt Protokolle der Gegenwart, in gewohnt ansprechender Form und mit Illustrationen von Oliver Hummel im Verlagshaus Berlin erschienen, kann durchaus als Ergebnis oder Erweiterung dieser Arbeit verstanden werden. Statt gegen das Liken und Verlinken rechter Sprache anzuschreiben, widmet sich der Gedichtband in drei Kapiteln und hundert Texten einem breiteren Spektrum an Gegenwartsthemen, stets "auf der suche nach alltäglichen beweisen moralischer insolvenz" - wie es im Eingangstext heißt.
Der erste Vers im Buch lautet:
"die beobachterin alterslos ruhelos unter aufsicht in quarantäne"
Die Beobachterin ist isoliert, zugleich aber auch Teil dieser Gegenwart, die sie beobachtet, alterslos doch nicht neutral, teilnehmend, protokollierend, doch nicht unsichtbar. Es ist der Blick einer Flâneuse. Und da sich die Gegenwart noch immer, immer mehr oder immer unverstellter im Netz und einer globalen Welt abspielt, werden viele (virtuelle) Randzonen auf der Suche nach einer gemeinsamen Sprache betrachtet; Nachrichten- und Empörungsströme werden als gegenwärtiges Sprachmaterial verwendet.
"vorweg: ich habe all das von google abgeschrieben
zu jedem thema ausreichend entprivatisiertes netzmaterial
schön komprimiert ohne neugierde oder fragestellung mein wissen
addiert kompiliert copy and paste grundsätzlich alle quellen gelöscht"
Obwohl der Flâneur lange schon ein Auslaufmodell ist, und der Tod des Cyberflâneurs bereits 2012 ausgerufen wurde, erlebt die Flâneuse momentan ein gewisses Comeback. Kulturgeschichtlich im Buch von Lauren Elkin oder aktuell im Verbrecher Verlag mit Flexen.Flaneusen*schreiben Städte wird das Flanieren als ein noch im 21. Jahrhundert leider notwendiger emanzipatorischer Akt beschrieben. Dies gilt im Zuge der metoo-Debatte für Belästigungen im Alltag. Dies gilt ebenso im Cyberspace, wo auf sichtbar werdende Frauen vielfach mit misogyner Gewalt reagiert wird, in Tweets, Kommentarspalten, Push-Nachrichten. Und so wie der Flâneur die Stadt, die er durchstreift, in seiner Beschreibung erst erzeugt, heißt als feministischen Akt einen Diskursraum einzunehmen immer auch ihn zu strukturieren oder zu dekonstruieren, die Sprache nicht nur aufzufinden, sondern auch zu verschieben mittels der, wie es im Text heißt, "korrekturfunktion papercut". So sollen in Sprache und Diskursen verborgene Machtstrukturen nicht nur sichtbar gemacht, sondern auch verändert werden, gemäß der Aufforderung: "leg zukunft in die wahl der worte".
"TO-BE-LOOKED-AT-NESS ODER ES WAR EINMAL die machtlosigkeit der frau
on the outside looking in unmöglich die situation zu kontrollieren den raum
für sich einzunehmen irgendetwas im blick zu behalten auch das gesehene nicht
es war einmal ein ungeschriebenes gesetz des blicks der nicht erwidert werden
kann darf soll es war einmal das dulden aushalten beugen brechen
[...]
diese monologe werden in zahllose sprachen
übersetzt"
Damit ist das Sprachmaterial und die Arbeitstechnik in Sandra Gugićs Buch weitestgehend beschrieben; hinzu kommt der das gesamte Buch durchziehende theoretische Background der Autorin. Der erste Teil des Buches mit dem Titel "Anomiecluster" behandelt einige mit der Rolle der Beobachterin zusammenhängende Fragen von Gender, Körperlichkeit und Begehren. Anomie, also das Auftreten von normabweichendem Verhalten in Folge der Aufweichung tradierter Struktur- und Ordnungsprinzipien und der dadurch bedingten Schwächung des gesellschaftlichen Zusammenhalts ist ein Begriff aus der Soziologie. Cluster beschreibt eine Ansammlung von Objekten mit ähnlichen Eigenschaften. "to-be-looked-at-ness" ist ein Begriff aus der feministischen Filmtheorie. (Ich habe all das von Google abgeschrieben.) Frauen und Flâneusen sind und waren nämlich nicht unsichtbar wie ihre männlichen Counterparts:
"kassandra sag: verzeiht die gesellschaft frauen nichts
inversion da capo bewertungsmechanismus macht oder utopisches
subjektkonzept möglicherweise die struktur der machtverhältnisse
systematisieren datieren nummerieren
judith nike medea medusa hydra"
Auf eine dermaßen dichte, theorielastige Metasprache, in der die verschiedenen Diskurse wie Gender, Fluchtbewegungen, staatliche oder patriarchale Macht und viele mehr verhandelt und in prosaischen, essayistischen, ungebundenen Texten zusammenmontiert oder auseinandergeflext werden, muss man sich bei der Lektüre einstellen. Die Texte tragen Titel wie "koerperpolitische freihandelsabkommen", "nullhypothese" oder "fremdheitspostulat". Sie beginnen mit:
"VORORT TRANSKRIPT über das erobern des raumes ideal und idylle
aufgelöst in datenerhebung auswertung theoriebildung vermittlung
mythos beim ankommen im hotel in jedem winkel ein herrgott"
So reiht sich in den Texten ohne Punkt und Komma stakkatohaft Abstraktum an Abstraktum, nur um gelegentlich Atem zu schöpfen in einer flektierten Verbform oder einem konkreten Bild; vieles wird nur rasch hingeworfen, erweitert, übertragen, ersetzt; Obama, Thatcher und Prince tauchen in Fußnoten auf; die anfängliche Überforderung legt sich mit der Zeit, ohne dass aus dem Übermaß an zusammengetragenem Sprachmaterial, dieser "kontaktimprovisation in neusprech", sich klare Bewegungen oder Bilder herausbilden würden. Man ist inmitten der "weltabgewandtheit der diskurse". Der Reiz liegt vielfach darin, die Arbeitsweise der Autorin weiterzuführen und beispielsweise Fluchtbewegungen mit Cut-und-Paste zusammenzudenken oder die weltweit existierenden Grenzkonflikte mit Generationengrenzen. Gugićs Texte aber bieten dafür nur das aneinandergereihte Textmaterial. Zu häufig genügen sie sich im Ausufern des Protokolls. Die Engführung bleibt weitestgehend aus oder geht in der assoziativen Textmenge unter. Hier und da gibt's dann auch mal ein Zootier.
Der Umfang gegenwärtig und weltweit produzierter Literatur, von Tweet bis Epos, dieses Meer-vor-lauter-Sprache ist unüberwindbar. Sprache ist maßlos; die Funktion der Kultur liegt in der Reduzierung des Übermaßes. Das Protokoll ist nicht die Gattung, die dies zu leisten vorgibt. Daher die Fachsprache, die selbst "das reale" sucht oder mehr noch: nach "der wahrheit".
"UNMÖGLICH SICH AUSZUDRÜCKEN in dieser unmerklich fallen gelassenen
sprache etwas zum ausdruck bringen in dieser um aufmerksamkeit
buhlenden gekippten scheißsprache etwas grundsätzliches verstehen in
dieser scheißsprache die durch transiträume hallt sich an übergängen bricht
dauernd grenzen aufzeigt verschiebungen überlappungen ungereimtheiten
[...]
diese scheißsprache in schichten freigelegt und doch
von dieser plattform aus springen wir
über das feindbild hinaus"
Bleibt also die Gegenwart: Die Texte verstehen die Welt als "kettenreaktion" und die Menschen darin "im reich einer normativen normalisierungsgesellschaft" befindlich, die im Sinne der Clusteranalytik ihr Eingebundensein in die Welt und ihre Wechselwirkung mit dieser erkennen können, mitsamt ihren Ritualen als energiesparenden Verhaltensmustern.
Sprache vollzieht hier die zur Erkenntnis notwendige Inventur im Echoraum. Die Grenzen der Sprache bedeuten die Grenzen der Welt, zitiert Gugić Wittgenstein. Indem das Sprachmaterial der Gegenwart also kartographiert wird, werden Hauptstraßen, Trampelpfade, Grenzen und desire lines sichtbar. Und protokolliert die Flâneuse nicht nur die Welt wie sie ist, sondern bietet darüber hinaus auf dieser Map beispielsweise moralische Orientierung, so ist eine gemeinsame Sprache, die zur Beschreibung der Wirklichkeit hinreichen würde, der "missing link" zu jenen Gesellschaftsteilen, deren "selbstgewissheit die eckpfeiler eines failed state" sind. So würde Spracherwerb zur Integration für jene, die aus Eigeninteresse an tradierten Struktur- und Ordnungsprinzipien festhalten wollen.
Noch mal langsam: Es gibt eine weit verbreitete "sehnsucht nach eindeutigkeit" und den Wunsch, "auf der richtigen seite der geschichte" zu stehen. Die Sprache aber scheitert bereits am "übertragen der fakten". Der Begriff Protokoll war beispielsweise ursprünglich etwas, das einem Text vorangestellt war wie ein Impressum. Erst später wurde daraus ein Verlaufs- oder Wortprotokoll. Einem Protokoll zu folgen heißt aber auch, eine Sammlung von festgeschriebenen Regeln einzuhalten. Spätestens hier wird es dann wieder politisch:
"ich als regelbruch im system
ich als nachhaltigkeitsstrategie
ich als nichtregierungsorganisation"
Daher spielt das Begehren eine so wichtige Rolle, da die Gegenwart im "JETZT GILT ES / der körper" am deutlichsten zutage tritt. "was kommen wird entscheidet sich / in diesem augenblick", heißt es darum auch. Weniger kompliziert wird es aber nicht "im zentrum der aufmerksamkeit". Dort ist "ein an seinem geschlecht leckender hund" und dort schließt jemand anders "für sekunden die augen".
"im kopf der erzählerin laufen alle widersprüche zusammen"
Im Blog von NAZIS & GOLDMUND schrieb Sandra Gugić: "Dass die Literatur nicht die Welt retten könne, [...] dass sie in einer Blase lebe, dass das keinen interessiere, was sie da schreibe, dass das ja schon gar keiner verstehe, weil es zu verkopft sei, unverständlich, irrelevant". Doch "DIE VERWEGENHEIT VON HOFFNUNG", mit der Sandra Gugić diese Protokolle der Gegenwart zusammengetragen hat, liegt eben darin, dass jeder Mensch in jedem Augenblick die Gelegenheit hat, neue Inhalte zu lernen, neue Abläufe und Impulse, den Protokollen eben nicht zu folgen. Veränderung ist möglich.
Der letzte Vers des Buches lautet daher folgerichtig und utopisch:
"die gegenwart markiert die sollbruchstelle"
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