Anzeige
Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
x
Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Das Schicksal ist kein guter Gott

Hamburg

Schweigen ist anders als still sein. In Paula, dem neuen Roman von Sandra Hoffmann, wird die Bedeutung dieses ersten Satzes von der Ich-Erzählerin anhand zahlreicher Beispiele aufgefächert. Es ist ein Schweigen, das jede Fröhlichkeit für immer wegnimmt, das einen verschlingt. Und es ist Paula, die Großmutter der Ich-Erzählerin, die unerbittlich jedes Wort auffrisst, dass nichts übrig bleibt für dich.

Paula ist voller Geheimnisse. Es sind Geheimnisse, die aus einem fröhlichen jungen Mädchen eine traurige verbitterte Frau gemacht haben. Geheimnisse, die sie wortlos in sich trägt, unter denen aber dennoch die ganze Familie leidet. Da gibt es ein früh gestorbenes Kind von ihr, über dessen Vater die Familie genauso wenig weiß, wie über den Großvater der Ich-Erzählerin. Die Enkelin aber will mehr wissen und macht sich anhand von 419 Fotos auf die Suche nach der Wahrheit.

Ich habe es schon unzählige Male gemacht und mache es jetzt wieder: Ich lege die Fotografie mit den drei dunkelhäutigen Männern aus dem Karton meiner Großmutter neben das Kommunionsfoto meiner Mutter. Es ist ein Foto, auf dem jeder sehen kann, wie andersartig meine Mutter aussieht, wie unterschiedlich zum Rest der Familie, aus der sie stammt, zum Rest des Dorfes, zu den anderen Kindern ihrer Schulklasse, die ich ebenso nur von Fotos kenne.

Mal glaubt die Enkelin, die Großmutter sei vergewaltigt worden, mal denkt sie an östliche Zwangsarbeiter, aber jede Erkenntnis wird gleich wieder zurückgenommen, weil sich die Ich-Erzählerin nie sicher sein kann was stimmt.

Sicher ist nur, dass die Großmutter nie mehr einen Mann hatte, dass sie zeitweise Alkoholikerin war und im Haus ihrer Tochter mehr oder weniger geduldet wird.

Denn auch die leidet darunter, dass sie ihren Vater nicht kennt. Zwar hat sie zu Paula ein sehr angespanntes Verhältnis, aber sie kann sie nicht verlassen, weil sie immer hofft, das Geheimnis würde eines Tages gelüftet werden.

Wenn der, von dem sie nicht einmal den Namen wusste, ein Gesicht bekäme, eine Stimme. Wenn aus nichts ein Mensch würde. Ihr Vater. Deshalb musste sie bleiben und sie blieb. Und deshalb konnte sie die Mutter nicht alleine lassen mit ihrem Schnaps in ihrem Haus. Einen anderen Grund gab es nicht.

In diesem Leben voller Lieblosigkeit bleibt Paula die Flucht in die Religion. Ihr Schicksal und Gott haben für sie nichts miteinander zu tun. Sie geht ständig in die Kirche, hat ihren Rosenkranz immer griffbereit in ihrer unvermeidlichen Küchenschürze. Die übertriebene Frömmigkeit zwingt sie auch ihrer Enkelin auf, macht ihr von klein auf ein schlechtes Gewissen, wenn diese das Rosenkranzgebet nicht richtig aufsagen kann oder nicht regelmäßig zur Beichte geht. Überhaupt ist das Verhältnis zwischen Paula und der Ich-Erzählerin neben Paulas Geschichte der zweite Handlungsstrang des Romans. Ist das Kind für Paula etwas, an dem sie sich festhalten kann, an das sie sich zunehmend klammert, ist Paula umgekehrt für die Erzählerin anfangs ebenfalls ein Halt. Bei Alpträumen kriecht sie nachts zu Paula ins Bett, schmiegt sie sich an sie, und dies sind die Stellen im Roman, die eindeutig sind.

Was ich zum Beispiel nicht erfinden muss: Wie sich die Haut meiner Großmutter im Gesicht anfühlt, wie ein Veilchenblütenblatt, fast durchscheinend, wie unberührt. Keine Furchen mäandern hindurch, nur feine Linien, Spuren, Zeichen, wie Vögel sie im Schnee hinterlassen. Und ihren Geruch kenne ich noch heute. Warm und nicht sauer. Mild und nicht grob.

Doch je älter die Ich-Erzählerin wird, umso schwieriger wird das Verhältnis. Paula lässt sie nicht aus den Augen, schnüffelt in ihren Sachen herum, gelangt in jede Ritze meines Lebens, als erfahre sie sich darin selbst.

Aber auch wenn die Erzählerin als Halbwüchsige ihre Großmutter ablehnt, spürt sie doch deren Verlorenheit, wogegen sie sich nicht wehren kann. Sie spürt diese Verlorenheit auch an sich selbst, denn Paula hat immer vor irgendetwas Angst und diese Angst schwappt auf die Enkelin über.

Je älter ich wurde und je mehr ich unter ihr litt und je mehr ich sie zurückwies und sie doch liebte, wünschte ich ihr das: Menschen und Orte, an denen sie für einen Moment frei sein konnte.

Als Paula gestorben ist, besucht die inzwischen erwachsene Erzählerin heimlich deren Grab, ohne es ihrer Mutter zu sagen, weil sie ihr Leben lang das Gefühl hat, sich zwischen Paula und ihrer Mutter entscheiden zu müssen. Und als die Mutter das Grab auflösen will, weint sie.

Dies alles ist in verschiedenen Zeitebenen atmosphärisch dicht erzählt, Vergangenheit und Gegenwart sind geschickt verwoben, und der Autorin genügen 158 Seiten, um das Wesentliche zu erzählen. Mehr braucht es auch nicht. Laut Klappentext sei der Text ein Memoir, das sich wie ein Familienroman lesen würde. Das stimmt, denn trotz der Kürze gelingt es der Ich-Erzählerin, die bei diesem Genre naturgemäß nahe an der Autorin ist, ein plastisches Bild der Generationen und der Zeit auszubreiten.

Die Geschichte ist in ihrer Privatheit sehr berührend. Und doch erzählt sie beispielhaft wie fragil Beziehungen zwischen Menschen sein können und sie erzählt ferner von der Brüchigkeit der Welt.

An einer Stelle spricht die Ich-Erzählerin, und in diesem Fall wirklich Sandra Hoffmann selbst, von einem Roman, den sie über einen polnischen Zwangsarbeiter geschrieben hat. Sie sah ihn auf einem der Fotos, was ihn zu dem gesuchten Vater ihrer Mutter hätte machen können. Sie hat also von einem Menschen berichtet,

der auf einer Fotografie aufgetaucht ist zwischen all den Fotografien meiner Großmutter, der nichts als eine Mutmaßung ist.

Ich habe den gleichfalls sehr packend und zart geschriebenen Roman Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist nach Paula gelesen und bin über diese Reihenfolge froh. Die beiden Romane gehören zusammen. Denn auch wenn dieser Janek Biliński eine Kunstfigur ist, gehört er irgendwie zu Paulas Geschichte. Möglicherweise.

Sandra Hoffmann
Paula
Hanser Berlin
2017 · 160 Seiten · 18,00 Euro
ISBN:
978-3-446-25682-8

Fixpoetry 2017
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge