POETIK DES EISES
Hartgefrorener Spätherbst, aber schon dunkel. Sterne, aber kein Mond und kein Schnee, also auch kein Lichtschimmer – dichte Dunkelheit, trotz der Sterne. Zu beiden Seiten totenstiller Wald – mit allem, das zu dieser Zeit darin frieren leben und frieren mochte.
1897 wird der norwegische Autor Tarjei Versaas geboren, in einer bäuerlichen Hermetik in der Nähe von Telemark, der er sich von Beginn an verschließt. Er reist lieber, die 20er und 30er Jahre verbringt er in Europa, die Zäsuren der beiden Weltkriege schlagen sich später in seinem Werk nieder; heiratet die norwegische Lyrikerin Halldis Moren. Prosa und Dramatik dominieren anfänglich, nach 1945 publiziert Vesaas gleich vier Lyrik-Bände in dichter Folge, lyrische Gradmesser seiner dichterischen Entwicklung. In »Lykka für ferdesmann« (Glück für Fährleute) von 1949 lässt sich eine neue Metaphorik in Vesaas Texten ausmachen, die gleichsam Spiegel innerer Landschaften wird; lange, weit angelegte Flächen versus hohe, zerklüftete Berge, dünne Birkenstämme. Der frühere Folklore-Duktus, das Liedhafte in Vesaas Gedichten verschwindet, ein freier, rhythmisch angelegter Vers – angeregt durch die Lektüre Edith Södergrans – dominiert fortan, prägt den elliptisch prägnanten Stil seiner Prosa-Texte.
»Das Eis-Schloss« erscheint 1963: Der Titel ist Programm, das »Eis-Schloss« innere und äußere Wirkstätte eines Textes, der durch seine verknappte Sprache eine selten homogene Kohärenz zwischen Inhalt und Form umsetzt, den Lesenden nahezu einschließt; der eine Atmosphäre aufbaut, der man sich nur sehr schwer entziehen kann, so sehr man es auch im weiteren Verlauf manchmal möchte. Im Mittelpunkt des Textes, der weder Roman noch Erzählung genannt werden will, der sich einfach als topografische Benennung präsentiert, zwei elfjährige Mädchengestalten: »Siss« und »Unn«.
Und auch wenn man des Norwegischen nicht mächtig ist, so wird in diesen beiden kurzen Namen, dem Anlaut auf den eigenen Lippen bereits klar, dass hier eine große Unterschiedlichkeit der Figuren benannt wird: »Siss«, im Norwegischen »das Süße«. Siss, ein heller Ton, das langgezogene I, eine Leichtigkeit in sich tragend, während »Unn« mit keiner eindeutigen Übersetzung zu belegen ist, im Verborgenen bleibt, der dunkle Vokal ein vager Ausklang. Siss und Unn: Zwei unterschiedliche Artikulationen, zwei unterschiedliche Pole, zwei Gegensätze.
Vom ersten Satz des Textes an steht Siss für Helligkeit, aber auch für eine Kraft, die schwer einzuschätzen ist: Eine junge, weiße Stirn, die durch die Dunkelheit drang, so der erste Satz. Durch den dunklen Wald, der auf der ersten Seite als »totenstill« bezeichnet wird, durchbrochen von Siss. Das Todes-Motiv hier bereits auf der ersten Seite, Hand in Hand mit der Gestalt eines jungen Mädchens, einer Verabredung folgend: »Unterwegs zu Unn.«
Tarjej Vesaas große Kunst liegt darin, dass er von Beginn an eine Sprache formuliert, die thematisch dem großen Feld Tod und Eis verpflichtet ist, entwickelt aus der vermeintlich lebensspenden Kraft des Wassers – und der er dennoch eine Lebendigkeit, aber auch eine Unheimlichkeit abringt. Das liegt nicht nur an seinem klar geschliffenen Satzbau, an dem kein Wort zu viel oder zu wenig ist, sondern auch an der klug eingeflochtenen Dramatik, die dem Lesenden viel Spielraum lässt. So wie Vesaas Sprache als etwas Rares handhabt, so stattet er auch die Dialoge seiner Figuren nur mit dem Nötigsten aus – und erreicht so umso größere Wirkung.
Die erste Begegnung von Siss und Unn ist folgenschwer: Förmlich leidet man mit bei der ersten innigen Zusammenkunft dieser beiden Mädchen, die sich so sehr anziehen, sowohl körperlich als auch seelisch, die sich verstehen, und dennoch Angst voreinander haben, nicht aus sich selbst können, vieles erahnen, aber noch wenig erfassen vermögen. Jedes Gespräch zwischen den beiden beginnt und reißt ab, ein Strom aus Wasser, der – ganz dem Eis-Thema folgend – zum Erfrieren, zum Erstarren kommt.
Die Perspektiven wechseln kontinuierlich, einem Mosaik ähnlich setzen sich so Erzählebenen und Denkweisen der Figuren zusammen. Siss und Unn verbringen nur einen gemeinsamen Abend, an dem sie aneinanderprallen, auseinanderfliehen. Auch hier flicht Vesaas bereits die Eis-Metaphorik, einer Ankündigung gleich, immer wieder ein:
Ein Krachen im Eis irgendwo. Es lief über die Eis-Flächen und verschwand wie in einem Loch. Das dicker werdende Eis spielte mit meilenlangen Rissen. Als es krachte, machte Siss einen Satz. Aus dem Gleichgewicht. Ohne etwas Sicheres, um den Rückweg durch die Dunkelheit zu bestehen. Kein fester Tritt auf dem Weg – wie sie ihn noch auf dem Hinweg zu Unn hatte.
Unn bricht am nächsten Tag zum Eisschloss auf. In den Angstabgrund, ins Unbekannte. Am Ende der gesuchte Wasserfall, der ob der großen Kälte zu einem Eisschloss gefroren ist. Sie macht sich alleine auf den Weg, schlittert übers Eis, friert, ist allein, hält sich durch Bewegung warm und kommt schließlich beim »Eis-Schloss« an, das eine nahezu lyrische Umsetzung von Gaston Bachelards »Poetik des Raums« ist. Erstaunlich, wie Vesaas das Eis-Schloss aufbaut, Unn sich darin gleichermaßen finden und verlieren lässt, Orte und Räume schafft, die dem menschlichen Glück und der menschlichen Verzweiflung willkommen sind, ihre Entsprechung bilden; und Seite an Seite mit Unn wandert man durch den Text, vielmehr durchs Schloss, immer ein wenig auf der Hut, was als nächstes kommen mag.
Sie stand mitten in einem versteinerten Wald. Einem Eis-Wald. Das Wasser, das hier eine Zeit lang gespritzt hatte, hatte Stämme und Äste aus Eis gebildet, und zwischen den großen wuchsen kleinere aus dem Boden. Hier gab es auch Dinge, die weder so noch so genannt werden konnten – aber sie gehörten an einen solchen Ort dazu, und man musste alles mitnehmen, was dazugehörte. Mit weit aufgesperrten Augen starrte sie in ein fremdartiges Märchen hinein.
Fern toste das Wasser.
Unn verschwindet im Eis, Siss bleibt. Siss verändert sich. Eine grausame Metamorphose für das Mädchen, das das Ungeheure ihrer Begegnung nicht in Worte kleiden mag, es eben keine Entsprechung gibt, sie zwischen Wissen und Nichtwissen oszilliert bis an den Rand der eigenen Erschöpfung. Sie zieht sich auf ihr Inneres zusammen, gedrängt vom gesellschaftlichen Außen, dem Suchtrupp der Männer, der eigenen Familie, zuletzt auch von Unns Tante, die sich durch eine eigentümliche Autonomie auszeichnet. Siss gibt ein Versprechen, das sie zur neuen Unn macht, sie an den Rand ihres sozialen Umfelds rücken lässt. So wie einst Unn. Akzeptiert es, will ihre Trauer, ihr Versprechen nicht brechen. Eine tiefe Menschlichkeit, eine Wärme steckt auch in diesem Text, der seine Figuren durchs Eis, durchs sogenannte Stahleis schickt, das sich anfänglich durch nichts zum Schmelzen bringen lässt.
Und doch, es gelingt. Das Wasser taut, der Frühling kommt wieder, das Holz, die Holzbläser sind hörbar. Und es ist wirklich wunderbar, wie Vesaas alleine die Landschaft als Tableau vivant für Siss‘ Fortschritte, ihre seelische Genesung instrumentalisiert. Der Weg-Rand verliert seine Dunkelheit, seine Scharten, seine Härte; alles wird weicher, warme Töne halten Einzug, das Eis-Schloss bricht ein, Siss kehrt zurück.
Niemand kann Zeuge sein, wenn das Eis-Schloss einstürzt. Es geschieht in der Nacht, wenn alle Kinder im Bett sind.
Niemand ist so tief verwickelt, dass er dabei sein kann. Es mag schon sein, dass eine Welle vom lautlosem Chaos die Luft in weit entfernten Schlafkammern erschüttert, aber niemand wird davon geweckt und fragt: Was ist das?
Niemand weiß es.
P.S.: 24 Titel hat der Guggolz Verlag mittlerweile im Programm – allesamt ausgezeichnet durch eine sorgsame, mit dem Inhalt korrespondierende Grafik; kurzum: Bücher, deren Inhalt in eine wundervolle Gestaltung eingebettet ist. Bücher, die – und das hat Seltenheitswert – den Namen der Übersetzenden bereits auf den Titel vermerken.
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Anmerkung der Redaktion: Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel
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