Holocaust als Kultur
Wie Kertész gerade in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Nobelpreises gesagt hat, ist 'seit Auschwitz nichts geschehen […], was Auschwitz aufgehoben, was Auschwitz widerlegt hätte.'"
Dieser Satz findet sich in László F. Földyénis Beitrag zu jenem Imre-Kertész-Symposion an der Akademie der Künste zu Berlin von April 2018, dessen Materialien den Hauptteil des Hefts Nummer 228 von spritz ("Sprache im technischen Zeitalter" - "Begründet von Walter Höllerer") ausmachen. Wir lesen ihn Ende 2018, Anfang 2019, also zu einem Zeitpunkt, da eine Regierung auf dem Gebiet, das mal ein deutsches Reich hieß, die Wiedereinführung von "Schutzhaft" sowie"€ 1,50,- Maximallohn für Flüchtlinge" diskutiert. Mehr ist denn auch nicht zu sagen über die greifbare politische Aktualität und Brisanz eines Ereignisses, welches sich gleichwohl strikt im Gehege der Gelehrtenwelt abgespielt hat: eines deutschsprachigen Poetik-Symposions über jenen 2016 verstorbenen ungarischen Autor, dessen Werk eine distinkte und einzigartige Position unter den Ansätzen markiert, mit dem Holocaust umzugehen, was stets auch meint: literarisch umzugehen
Die vierzehn Beiträge dieses Thementeils, deren Verfasser Kertész
fast alle persönlich gekannt [haben] oder (…) mit ihm befreundet [waren]
leisten es, dem Unbeleckten einen systematischen Überblick über das Werk des Nobelpreisträgers zu liefern. Das begreift einen Katalog der theoriegeschichtlichen Anknüpfungspunkte seiner Prosen ein, ausgehend wenig überraschenderweise von jener paradoxen Ästhetik und Erzählhaltung Kertész', die im dissonanten Titel des Symposions und der spritz-Ausgabe angelegt ist – "Holocaust ALS Kultur".
Unangenehm fällt unter den diskursiven Epiphänomenen der Texte einzig auf, dass hier der Totalitarismusbegriff – erwartbarer Dauergast in philologischen Akten gerade über diesen Autor – auch von Experten beinahe bruchlos im Sinne einer naiven "Hufeisentheorie der politischen Systeme" benutzt wird, mit der sich tagespolitisch allerhand neoliberaler Unfug rechtfertigen lässt, die aber weder mit Arendts noch, hier wichtiger, mit Kertész' Schaffen problemlos in Einklang zu bringen ist.
Ein anderes Epiphänomen, einen anderen erwartbaren Dauergast in einem Konvolut gerade diesen Zuschnitts betreffend, fällt dagegen positiv auf, oder sagen wir: entfaltet auffällig Aussagekraft darüber, in welcher Lektüredimension wir uns bewegen. Denn in den meisten Texten, die in spritz #228 auf das bekannte Adorno-Zitat mit den Gedichten nach Auschwitz rekurrieren, wird dieses nicht, wie üblich, als ein "Diktum", ein "Wort", ein "Urteil" oder "Zitat" bezeichnet, sondern z. B. als
Adornos berühmte Prophezeiung
oder als seine
apokalyptische[r] Prognose, wonach alle Kultur nach Auschwitz Müll sei.
… "Prophezeiungen", "Prognosen" – wir sehen Adornos punktgenaue Formulierung einmal NICHT, wie sonst, als autoritativer Richtspruch gegen eine deutsche Volks- und Sprachgemeinschaft verstanden, die nach ihrem Verbrechen das Sühneopfer ihrer Gedichte bringen müsste. Stattdessen findet der berühmte Satz sich gelesen in Bezug auf eine Zukunft, als blanke Nennung schlechterdings wirklich gewordener Lebensbedingungen. Für diese Leseweise spricht, dass die jeweils nächsten (Ab-) Sätze in den entsprechenden Texten der Ausgabe darauf hinauslaufen, der Gehalt jener Prophezeiung müsse bloß recht verstanden werden, nämlich im Sinne einer nur noch mittels ästhetischer Dissonanz greifbarer Wirklichkeit – einer Konzeption, der mit Amérys und Celans eben auch Kertész' Herangehensweise genau entspreche.1
Weniger umfangreich, aber nicht minder lesenswert ist daneben die aussagekräftige Einführung in die Lyrik von Matvei Yankelevich (ein Artikel von Matthias Göritz, ein Stoß Übersetzungen von Göritz und Uta Strätling) sowie der Abschnitt "Atelier NRW" – sechs Essays über soziale Bedingungen des Schreibens nebst programmatischer Geleitschrift über die anlassgebende Symposienreihe. Unter ihnen sticht der Text Selim Özdogans besonders hervor, der mit folgendem Absatz beginnt:
Bin dafür, dass wir alle Leute mit reichen Eltern ein Jahr lang keine Romane veröffentlichen lassen und dann noch mal schauen, wie der Buchmarkt aussieht.
Tweet von Matthias Warkus, 12. Juni 2018, 352 "Gefällt mir"-Angaben, 52 Retweets
Und diese Themenkomplexe kann man, ohne weitere Moderation, gut nebeneinander stehen lassen. Die "sprache im technischen zeitalter" betreffen sie jedenfalls.
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Autor*innen: Martin Becker, Dietmar Ebert, László F. Földényi, Joachim Geil, Matthias Göritz, Rüdiger Görner, Peter Gülke, Irene Heidelberger-Leonard, Irmela von der Lühe, Katalin Madácsi-Laube, Lothar Müller, Leonard Olschner, Selim Özdogan, Iris Radisch, Gerhard Scheit, Angela Steidele, Dorian Steinhoff, Karosh Taha, Julia Trompeter, Christina Viragh, Sabine Wolf, Matvei Yankelevich. Übersetzer*innen: Matthias Göritz, Uta Strätling
- 1. Ich bleibe an dieser Stelle nicht in der indirekten Rede, um vorsichtige Distanz zum Gesagten zu markieren, sondern nur, weil ich nicht – im Indikativ – den Eindruck erwecken möchte, als hielte ich mich an dieser Stelle eines eigenen Urteils für ermächtigt.
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