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Kritik

Als Wiolka stundenlang auf den Papst wartete

Hamburg

Beginnen wir mit dem Ende des Romans der polnischen Autorin Wioletta Greg Unreife Früchte. Da sagt der fünfzigjährige Vater des Mädchens Wiolka kurz vor seinem Tod, dass die Menschen ihn wohl als alten Mann ansehen würden, er aber innerlich noch wie ein unreifer Apfel sei. Am Sarg des Vaters denkt Wiolka, ihm habe es im Leben immer an Zeit und Geld gefehlt.

Rysiu war ständig auf Achse – um das Geld für Schuhe und für den ersten Anzug zu verdienen, um den Militärdienst zu überstehen, um sich einen Motorroller zu kaufen, um Zosia zum Tanzen einzuladen. Er musste es zur Prüfung für die Agrar-Fachschule schaffen, zur Trauung, zur Taufe, zur Nachtschicht.

Die Lebensumstände, so kann man folgern, gaben ihm keine Zeit zu reifen. Dabei scheint in dem fiktiven schlesischen Dorf Hektary in den 70er und 80er Jahren die Zeit stehengeblieben zu sein. Das Kind lebt mit der Natur wie in einer anderen Geometrie der Welt. Da gibt es Heumieten, Brombeerhecken, Hornissennester und die Geräusche der Elemente. Wiolka hilft bei der Kirschenernte, begleitet ihre Großmutter auf den Markt und holt reife Mohnkapseln vom Feld. Die Küche ist verrußt, und zum Frühstück bietet Großmutter Blutwurst mit Zwiebeln an. Es gibt viele solcher sinnlichen Einzelheiten aus dem Leben der Ich-Erzählerin Wiolka, das sie mit Eltern, Großeltern, Schulfreunden und vielen anderen aus dem Dorf teilt.

Obwohl der Roman aus einzelnen Erzählungen besteht, gelingt es der Autorin, auf 143 Seiten ein umfassendes Bild der Zeit zu zeichnen. Da die Ereignisse kommentarlos aus der Sicht eines Kindes und später einer Jugendlichen geschildert werden, sprechen oft gerade die Leerstellen für sich und in wenigen Sätzen wird eine ganze Geschichte erzählt. Wenn beispielsweise Wiolkas Mutter an die Tür ihrer Schneiderin klopft und diese erst aufmacht, als ihr versichert wird:

Frau Stasikowa, machen Sie auf. Wir sind’s. Für die Renovierung der Kirche sammeln sie nächste Woche, und die Zähler werden erst morgen Vormittag abgelesen. Ich weiß es, weil Janek sich verplappert hat.

Die große Politik findet in Hektary im Kleinen statt. Wie die Menschen in Zeiten des Kriegsrechts und der Gewerkschaftsbewegung Solidarność den Kommunismus erleben, wird mit großem Augenzwinkern und in drastischen Bildern erzählt. Weil Wiolka gerne malt, beteiligt sie sich an dem Kunstwettbewerb Moskau mit deinen Augen. Nur läuft leider aus Versehen Tinte auf die fertige Zeichnung, so dass man ihr eine katastophische Sichtweise vorwirft und sie deshalb regelrecht verhört, um herauszubekommen, von wem sie diese negative Vorstellung der sowjetischen Hauptstadt habe. Aber weil ihr quasi als Bestechung während des Verhörs ständig Schokolade angeboten wird, kommt das Ganze zu keinem befriedigenden Ergebnis.

Ich hörte den Mann fragen: Wer? -Na sag schon, wer? -Wann? -Wozu?
Ich beugte mich über den Schreibtisch und sah mein blasses Spiegelbild auf der polierten Fläche. Auf der Zeichnung setzte sich eine Fliege in den dunkelsten Winkel des Roten Platzes und ging dann locker über den mit Tinte begossenen Erlöserturm. Ich spürte einen Krampf im Magen und musste mich übergeben. Das braune Zeug bedeckte den hellen Teil der Stadt.

Wenn das ganze Dorf keinen Strom hat, wissen alle, die zehnte Stufe der Energieversorgung hat eingesetzt, aber ein Mitschüler von Wiolka macht ein gutes Geschäft, indem er Lenins gesammelte Werke gegen Toilettenpapier tauscht. Immerhin erwähnt die Erzählerin, dass Lech Wałęsa am 10. Dezember 1983 den Friedensnobelpreis bekommt, aber wichtiger ist für sie an diesem Tag die Probe in der Schule für die Weihnachtsaufführung.

Der Vater ist ein hartgesottener Atheist, der nur an seine Partei glaubt, während die restliche Familie in einen unumstößlichen Katholizismus eingebettet ist. Allerdings ist Religion für Wiolka eher alltäglich als heilig, wovon sie auch hier mit dem Blick des Kindes erzählt.

Noch war die Lauretanische Litanei in meinen Ohren nicht verklungen, denn wie immer um diese Jahreszeit hatte ich sie auf den Maifeiern unzählige Male hören und mir an den geschmückten Bildstöcken und Kreuzen die Füße in den Bauch stehen müssen, da erinnerte ich mich, dass Vater beim Mittagessen erwähnt hatte, wir könnten Maikäfer jagen.

Als der Pfarrer ankündigt, dass das Bild der Muttergottes aus der Basilika des heiligen Antonius in ihr Haus gebracht werden soll, putzen Wiolkas Mutter und Großmutter wie verrückt alle Räume, damit die heilige Jungfrau nicht von Ungeziefer belästigt wird. Leider ist der Zauber der Pilgerreise beim Ankommen der Madonna trotz zahlreicher Rosenkranzgebete bald verflogen, weil die fromme Versammlung plötzlich im Dunkeln steht, und alle nach der Ursache des Stromausfalls suchen.

Überhaupt scheinen religiöse Ereignisse unter keinem guten Stern zu stehen. 1983 kommt das Gerücht auf, der Papst würde durch Hektary fahren. Folglich versammeln sich alle Nachbarinnen im Haus von Wiolkas Eltern, um eine kilometerlange Wimpelkette zur Begrüßung des Heiligen Vaters zu nähen. Obwohl sie während des Nähens bei durchaus sehr weltlichen Gesprächen ein Gläschen auf die Gesundheit des Papstes trinken, lässt dieser erstens Hektary links liegen und zweitens warteten auf der anderen Seite der Kreuzung schon diejenigen, deren Aufgabe es war, die Dekoration zu zerstören.

Doch auch in dem überschaubaren Kosmos ihres Dorfes erfährt die jugendliche Erzählerin die Brüchigkeit der Welt. Am meisten trifft sie natürlich der frühe Tod des Vaters. Aber da gibt es noch den Großvater, der sich im Krieg nach der Flucht aus dem Lager in den Höhlen des Krakau-Tschenstochauer Jura verstecken musste, und Wiolka weiß, dass 1943 die Deutschen aus Rache ein fünfjähriges Mädchen erschossen haben. Und in der Gegenwart muss die Schneiderin ihre Einsamkeit mit einer männlichen Puppe kompensieren.

Außer dem Tod des Vaters nehmen diese Geschichten keinen großen Raum ein, die kleinen und großen Katastrophen werden meist wie beiläufig erzählt. Es ist erstaunlich, wie es der Autorin gelingt, Wiolkas Geschichte aus deren Sichtweise zu erzählen und dennoch in dem kurzen Roman viele Facetten der Gesellschaft darzustellen. 

Wioletta Greg
Unreife Früchte
Übersetzung:
Renate Schmidtgall
C.H. Beck
2018 · 143 Seiten · 18,95 Euro
ISBN:
978 3 406 71883 0

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