Zuhause fern von daheim
Ich kam als Waise zur Welt. Nicht, weil meine Eltern gestorben waren, nein, sie waren beide quicklebendig. Doch meine Eltern haben mich weggegeben.
So beginnt der autobiographische Text der 1973 geborenen Autorin und Filmemacherin Guo Xiaolu1, die zur ethnischen Minorität der Hui (gesprochen: Chuei) gehört, eines seit der mongolischen Yuán-Zeit, dem Khanat Kitai, 1279-1368, in China entstandenen, islamgläubigen Volkes. Sie stellt anschaulich und oftmals anrührend die Verhältnisse in dem sich verspätet aber rasant industrialisierenden, autoritär und undemokratisch geführten Land dar. Die politische Haltung zu ihrem Land formuliert sie ohne Umschweife:
Nicht nur haben die meisten Chinesen heute WCs und Mikrowellen, wir haben auch ein modernes Eisenbahnsystem, Hightech-Fabriken und schießen Raketen ins All. Doch trotz aller Fortschritte (…) gibt es immer noch keinen Raum für Menschenrechte und politische Freiheit.
Eine Meinung, für die in China, wird sie öffentlich geäußert, mindestens zehn Jahre Arbeitslager wegen „Untergrabung der staatlichen Autorität“ drohen. Immer wenn Xiaolu Guo von den laufenden Ereignissen erzählt, wie etwa im ersten Segment des Romans Shitang, stellt sie einen faszinierenden Sog her. Es gibt nur wenige Passagen, in denen historische Ereignisse und Prozesse in den Vordergrund treten, die ein wenig spröder geraten sind und in denen die Erzählung leicht an erzählerischem Fluss verliert. Der Autorin gelingt es, einen tiefen Eindruck von der allseits spürbaren Verhärtung in den Menschen gegen alles Lebendige zu vermitteln:
Mit der Zeit häuften sich die heftigen Prügelattacken. In den Augen meiner Mutter war ich ein „nutzloses Mädchen“ und ein „Nimmersatt“. Meine Anwesenheit im Haus bedeutete weniger Lebensmittel für alle. In Mutters Gegenwart fühlte ich mich eingeschüchtert und ängstlich, ich konnte ihr einfach nichts recht machen. Zu jener Zeit hatte die Ein-Kind-Politik ihren Höhepunkt erreicht, und wir hörten viel von neugeborenen Mädchen, die an Bushaltestellen oder neben Eisenbahnschienen abgelegt wurden. Meistens lagen diese namenlosen Mädchen in Schuhschachteln. Wurden sie gefunden, brachte man sie in Waisenhäuser.
Der Roman erschien 2017 unter dem Titel Once Upon a Time in the East. A Story of Growing Up. Bei Chatto & Windus in London (ISBN 978-1784740689) und wurde von Anne Rademacher in ein klares, einfaches und gut lesbares Deutsch übersetzt.
Er ist in fünf große Segmente unterteilt, das erste widmet sich ihrer frühen Kindheit bis zum Eintritt in die Grundschule. Das Mädchen lebt in dieser Zeit bei den Großeltern in einem abgelegenen Fischerdorf an der Ostküste, in dem archaische Verhältnisse herrschen. Der Großvater ist ein schweigender, gegen seine Frau gewalttätiger Patriarch, der seine selbständige Existenz als Fischer verlor, da er die Kollektivierung der selbständigen kleinen Fischer nicht ertragen konnte. Ein Umstand, der zum ersten Mal, natürlich erst aus der Perspektive der Erwachsenen verstanden, den harschen Zugriff des anonymen Staates auf das Individuum zeigt. Trotz ihrer vom örtlichen Dialekt abweichenden Sprache fühlt sich das Mädchen im Zusammensein mit ihrer Großmutter und den Kindern des Dorfes wohl, wenn es auch schon ein Gefühl der Andersartigkeit, Fremdheit und tiefen Einsamkeit kennen lernt. Die Zeit ist von großer Armut geprägt. Ihre Nahrung besteht aus Tang und Reisbrei.
Als ihre Einschulung ansteht, holen sie ihre Eltern zurück, aber sie spürt bald die Ablehnung ihrer Mutter.
Vater war der Einzige in der Familie, zu dem ich mich hingezogen fühlte. Er war sensibel und einfühlsam, was sicher auch daran lag, dass er Maler war.
Als Intellektueller wurde ihr Vater während der Kulturrevolution (1966-1976) als Klassenfeind in ein Arbeitslager eingesperrt. Die Mutter erzählt ihrer jungen, fassungslosen Tochter, sie habe ihren Vater kennen gelernt, als sie ihn als Rotgardistin auf Geheiß des Anführers beschimpfte und bespuckte.
„Aber ich meine – hatte er dir ins Gesicht gesehen, während du ihn angespuckt und getreten hast?“ „Das weiß ich nicht mehr. Wir waren eine Rote-Garde-Truppe, wir haben uns vom Moment berauschen lassen,2 eigentlich haben wir es nicht so gemeint.“ Mutters Stimme klang schockierend gleichgültig und nüchtern.
Die Leserin erlebt die historischen Ereignisse des späten 20. Jahrhunderts mit, gespiegelt in dem eingeschränkten und deshalb bisweilen komisch wirkenden Verständnis des heranwachsenden Kindes. So den Prozess gegen die Gattin Mao Zedongs Jiang Qing und die sogenannte Viererbande, ehemals hohe Funktionäre der KP während der Kulturrevolution. Der Name Deng Xiaoping fällt, der China auf den Weg der Modernisierung setzte, die zur Herausbildung einer autoritären, die universellen Werte der Menschenrechte missachtenden staatskapitalistischen Großmacht führte.
Das extrem kurzsichtige Mädchen liebt es, die chinesische Schrift zu erlernen:
Ich konnte gar nicht genug von neuen Ideogrammen bekommen. Nehmen wir zum Beispiel das Zeichen für „hell“ 明 (ming ausgesprochen), das sich aus dem Sonnensymbol (linker Teil) und dem Mondsymbol (rechter Teil) zusammensetzt. Sonne und Mond ergeben zusammen die Bedeutung hell. Ich liebte es, dass man Zeichen immer wieder anders aneinanderkleben konnte und dann zu neuen Bedeutungen kam. Das Zeichen für „Tau“ 露 (lou gesprochen) enthielt oben (…) Regen und unten (…) Pfad. Morgentau, Regen über Pfad.3 Selbst für ein kleines Mädchen, war das eine sehr schöne Vorstellung.
Die endemische Marginalisierung der Frau in der chinesischen Zivilisation wird bestürzend an dem Erleben des 12jährigen Mädchens deutlich. So deutlich hat man von der Unterdrückung der Frau im China gegen Ende des 20. Iahrhunderts noch nicht lesen können:
Hu Wenren kannte meinen Heimweg von der Schule und auch zu Vaters Büro. Er lauerte mir auf. Zuerst bemerkte ich, dass er mich verfolgte. Eines Tages zog er mich dann an einen ruhigen Ort, und so begann das Fürchterliche normal zu werden. Während ich am ganzen Körper zitterte, zog er mir die Unterhose herunter und spielte mit meiner Klitoris. (…) (Er) drohte mir Schläge an, wenn ich auch nur ein Geräusch von mir gäbe. Ich weiß noch, dass ich mich umschaute und den Unrat und die verrottenden Speisereste sah, die in einer Ecke zusammengeschoben waren. Hühnerdreck unter meinen Füßen. Es war eine Metapher für meine Situation: schmutzig, hilflos und hoffnungslos. In dieser ersten Zeit des Missbrauchs wurden meine emotionalen Grundmuster geprägt: Angst und Scham angesichts des Eindringens in meine Intimsphäre.
Mit 13 Jahren begann das Mädchen, in dem während der 1980er Jahre gängigen „opaken Stil“, im Text ist die Rede von Nebeldichtung, Gedichte zu schreiben:
Ich lief in den Herbstwald
Und spürte den Hauch eines Blatts
Das hinter meinem Kopf hinabsegelte
Ich wandte mich um und
fand nur meine Melancholie.
(…)
Später lässt sie sich von modernen Übersetzungen Walt Whitmans und Frank O’Haras begeistern und in ihrem Schreiben beeinflussen. Die Auseinandersetzung mit dem Konfuzianismus scheint mir ein wenig einseitig zu allzu negativen Schlüssen zu gelangen, aber vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen ist ihre Radikalität verständlich.
Sie erlebt das heute tabuisierte und verdrängte Geschehen der Studentenrevolte 1989 am Fernseher mit:
Und so saßen wir da und verfolgten im Fernsehen den Lauf der Ereignisse, bis am 4. Juli (1989) die Gewalt ausbrach. Deng Xiaoping hatte befohlen, den Unruhen ein Ende zu setzen. Die Partei rief das Kriegsrecht aus und mobilisierte 300.000 Soldaten der Volksbefreiungsarmee. Wir sahen im Fernsehen, wie Soldaten mit Maschinengewehren den Platz stürmten. Dann kamen die Panzer. Sie rollten direkt in die Studentenmenge. Vor unseren Augen verwandelten sich die Proteste in ein Massaker.
Nach Abschluss der Schule entschließt sich die junge Guo an die damals einzige Filmhochschule Chinas in Beijing zu gehen. Einfacher gesagt als getan: Im zweiten Anlauf gelingt es ihr, in zahlreichen schriftlichen und mündlichen Prüfungen unter 7100 Prüfungsteilnehmern einen der wenigen Studienplätze zu ergattern.
Die visuelle Welt, die sich mir jetzt in Peking erschloss, überstieg alles, was ich mir hätte vorstellen können. Meine Zeit an der Filmakademie war ein einziger langer Traum aus tausenden und abertausenden Schwarz-Weiß-Bildern.
Im zweiten Jahr an der Filmhochschule erhält sie die Aufgabe, einen Kurzfilm zu drehen und entscheidet sich für eine Dokumentation der avantgardistischen Künstler in einem damals weit außerhalb Beijngs liegenden Dorf Da’shan’zhuan, das East Village genannt wurde. Sie lernt Maler und Performance-Künstler kennen, z. B. Zhang Huan:
Ich hatte das Glück dabei zu sein. Zhang Huan hatte sich den nackten Körper mit Fischöl und Honig eingeschmiert, um Fliegen anzuziehen, und hockte sich so über die Latrine. Stundenlang setzte er sich den Attacken der Fliegen aus.
Eingriffe der Staatsmacht bleiben nicht aus und bald verschwindet das Dorf durch den Bau der Vierten Ringstraße und Guo resümiert resigniert:
Heute sind die Künstler in China entweder staatlich anerkannt, sitzen im Gefängnis oder haben sich in den Westen abgesetzt. Wir haben unsere kollektive Energie verloren und unsere einst so starke Untergrundidentität.
Über ein britisches Stipendium kommt Guo Xiaolu nach London, wo sie sich lange Zeit fremd und unwohl fühlt. Mühsam, aber mit unglaublicher Intensität, erlernt sie die Sprache und beginnt auf Englisch zu schreiben. Ihre Bücher haben Erfolg, und sie wurde wirklich zur „globalen Bäuerin“, wie sie sich selbstironisch nennt, und zur britischen Bürgerin.
Im Ganzen vermittelt sich ein bedrückendes Bild einer fremdartig rohen, über das Individuum hinweggehenden Gesellschaft. Aufgrund der Armut und der anfänglich noch fehlenden ökonomischen Aufwärtsentwicklung scheint die in der chinesischen Kultur vorhandene warmherzige Sanftheit (etwa in der daoistischen Anschauung der Welt) nicht zur Entfaltung kommen zu können. Die alle Sinne verletzende Rohheit war bis zu Beginn der 1990er Jahr überall zu spüren. In der grauen, jegliche Farbgebung verweigernden Architektur, in der Einschränkung des freien Denkens, im massenhaften Vollzug der Todesstrafe, in der nicht vorhandenen Partizipation der Bevölkerung am politischen Prozess, in der Zensur und nicht zuletzt im Raubbau an der natürlichen Umgebung, in der Unterdrückung der Tibeter, Uighuren und anderer Minoritäten. Sicher darf man nicht übersehen, dass für Millionen Menschen die Befriedigung elementarer Lebensbedürfnisse (Ernährung, Wohnen, Bekleidung, Bildung) gesichert wurden, aber zu welchem Preis? Die sich im Erleben der Autorin spiegelnde dunkle Struktur ist nach wie vor vorhanden.
Das ehrliche, unverstellte Buch kann darüber die Augen öffnen. Es zeigt die Biographie einer ungemein starken Frau, die ihr Land hinter sich lassen musste, um ihre Autonomie entfalten zu können.
- 1. Im Chinesischen steht der Familienname vor dem Vornamen.
- 2. Hinweis für den Verlag für eine TB-Ausgabe: Statt lassen steht im Original lauschen. (S. 103). Der Einfachheit halber führe ich hier weitere Hinweise an: (S. 192): Auf keinen Fall wollte ich mich an die Weisheiten des Konfuzius zu halten. Zu: streichen. (S. 248): Er packte meinen Armen und tat mir weh. Die korrekte Transkription des Namens der letzten Frau Mao Zedongs ist Jiang Qing , nicht Jian Qing. 露 (lou gesprochen) korrekt: (lu gesprochen).
- 3. In der Übersetzung der Deskription der Zeichen sind der Übersetzerin einige Ungenauigkeiten unterlaufen. Hier (S. 124) wäre sinologischer Rat sinnvoll gewesen.
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