Keine 21 Gramm Zweifel
"’Zählen Sie abwärts’, forderte sie mich auf und drückte mir die Narkosenmaske auf das Gesicht.“ Mir dieser Anästhesie beginnt die albtraumhafte Geschichte des vierundzwanzigjährigen Ich- Erzählers Sebastian, der wegen eines mysteriösen Herpes-Virus’ angeblich nur noch ein halbes Jahr zu leben hat. In einem wortgewaltigen Parforceritt führt Albert Ostermaier den Leser durch ein Labyrinth undurchschaubarer Ereignisse voller Ängste und Verrat, immer verbunden mit der quälenden Selbstfindung des jungen Mannes zum Schriftsteller.
Er sei ein „Houdini der Selbstbetrugszauberkünste“ behauptet Sebastian von sich und diese Eigenschaft verhindert, dass er das macht, was er eigentlich möchte, nämlich nichts als Schreiben. Aber weil seine Eltern von ihm erwarten, dass er sein Jurastudium beendet, um später die Firma zu übernehmen, schwankt der ehemalige Klosterschüler ständig zwischen Anpassung und Rebellion. Er sieht sich als Linker, als Revolutionär, „musste etwas Großes schreiben“ und bittet dann doch seine Mutter um Geld, damit er seinen besten Freund, den verehrten Abt Silvester zu einem teuren Essen beim Edelitaliener einladen kann. Silvester, der ihn einst über die Hürden der lateinischen Sprache gehoben und der als Erster und vorerst Einziger den Dichter in Sebastian erkannte hat, ist für den Jungen der feste Anker in seinem Leben. Silvester scheint aber auch ein toller Typ zu sein. Ein Abt, der Flöte spielt wie Jethro Tull, einer, der in der Schülerband rockt und überhaupt ganz und gar gegen Konventionen und kein bisschen bigott, sondern gebildet offen und Sebastian zugetan zu sein scheint. Er erklärt ihm Kunst und Musik und reist mit ihm (natürlich auf Sebastians Kosten) nach Venedig zur Biennale. Ausgerechnet dieser Abt, der eine merkwürdige Nähe zu Sebastian sucht, schleppt ihn zu der Ärztin Dr. Sybille Scher, die bei ihm diesen tödlichen Virus diagnostiziert, den er angeblich von einer Jemenreise mitgebracht hat. Sebastian will ein zweites Gutachten, verweigert sich den Vorschlägen von Dr. Scher und immer ist es Silvester, der versucht, sein Misstrauen zu zerstreuen, ihn wieder auf Kurs bringen will. Bis ein zweiter Arzt feststellt, Sebastian sei völlig gesund. „Was machte mich zu einem guten Opfer“, fragt sich Sebastian gegen Ende des Romans. Denn es stellt sich heraus, dass Silvester und Scher, die gar keine Ärztin ist, wahrscheinlich irgendwie zusammenarbeiten. Und der junge Protagonist, der unnötigerweise durch die Hölle der Todesangst gegangen ist, will bis zum Schluss nicht wahrhaben, dass alles gegen seinen Freund spricht. Denn als Sebastian nach der Wahrheit, sucht, die für den einstigen Klosterschüler „Erlösung“ bedeutet, verschwindet Silvester von der Bildfläche.
Aber nicht nur der Protagonist wird ohne genaue Aufklärung entlassen, auch der Leser erfährt nicht, ob der Abt versehentlich und ohne böse Absichten in dieses Intrigenspiel geraten ist oder ob er bewusst den vermögenden Sebastian benutzte, um an ihm zusammen mit Scher an einem vorgetäuschten Heilungsprozess viel Geld zu verdienen.
Ostermaier erzählt eine äußerst spannende Geschichte und man will wissen, wie es mit dem Opfer und den Bösewichten weitergeht. Doch der Autor erwartet vom Leser viel Geduld, denn gerade an den „Cliffhangern“ wird der Erzählfluss oft unterbrochen und Sebastians Leben in Rückblicken ausgebreitet. Erst am Ende des Romans nimmt die Geschichte Fahrt auf.
Die Rückblicke bevölkern zahlreiche weitere Figuren. Der Leser lernt Freunde von Sebastian kennen, die alle in seinem persönlichen Entwicklungsroman ein bestimmtes Kapitel darstellen. Da gibt es Christoph und Achmed und David und diese Freunde sind Außenseiter so wie er sich auch selbst mit einer ständigen Wut im Bauch als einen sieht. Vor allem beschreibt Ostermaier, wie Sebastian sich durch seine Beziehung zur Literatur und den großen Dichtern definiert. Dies geht so weit, dass Der Protagonist seine eigenen Gefühle in literarischen Gestalten auslebt. Er fühlt sich „wie aus einer Joseph-Conrad-Erzählung“, er läuft durch Paris, „weil Handke zu Fuß durch die Stadt lief“ und bekommt Asthma während er den „Zauberberg“ liest. Die Unsicherheit seines jugendlichen Helden, die mit zunehmender Todesangst immer größer wird, zeigt Ostermaier auch darin, dass Sebastian manchmal die nötige Distanz zu Geschehnissen fehlt. „Ich musste aufhören, alles auf mich zu beziehen, was passierte“, sagt er nach seinen Erfahrungen, aber es gelingt ihm nicht. Beim Betrachten von Kaurismäkis „I Hired a Contract Killer“ überlegt er, ob er es dem Filmbeispiel gleichtun sollte und als im Fernsehen von der Flucht Honeckers nach Moskau berichtet wird, fragt er sich: „War Flucht die Lösung, sollte ich fliehen?“ Bezeichnenderweise denkt Sebastian auf der letzten Seite an „Das Schweigen der Lämmer“ und speziell an die Szene, in der Hannibal Lector dem ahnungslosen Arzt, der ihn für krank erklärt hatte, folgt.
Vor dem politischen Hintergrund der frühen Neunziger Jahre erzählt Albert Ostermaier sehr gekonnt die Geschichte eines jugendlichen Helden, den die Ereignisse erwachsen werden lassen. Damit könnte man ihn einreihen in die Erzählungen des diesjährigen Bachmannpreises, bei dem diese Themen oft im Fokus standen. Unser werdender Dichter müsste trotz seiner Wortfülle allerdings noch ein bisschen an der Sprache feilen: „Wolkenbänder lagen wie Mullbinden auf dem Himmel, Sonneneiter floss an ihren Rändern ins Grau“ würde die Jury wahrscheinlich nicht durchgehen lassen.
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