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Kritik

Moloch Mumbai, Moloch Welt

Hamburg

Es ist schade, dass Lyrik so wenig gelesen wird. Erst recht angesichts eines Werks wie diesem: Das Langgedicht „Das Ministerium der verletzten Gefühle“ des indischen Schriftstellers Altaf Tyrewala ist ein Orkan, ein sprachlich und inhaltlich überbordendes Liebe-Hass-Kompendium auf den Moloch Mumbai und den Moloch Welt; ein so wütender wie radikaler, schonungsloser und direkter Abgesang auf die Gegenwart, ein Totengebet, das durch die dreckigsten Löcher des Lebens kriecht. Tyrewala, 1977 in Mumbai geboren, Muslim, Ex-Wirtschaftswissenschaftler, in New York studiert, watet durch den tiefsten Schlamm der menschlichen Existenz, aus den Versen sickert Verwesung; das Gedicht ist hochpolitisch ohne sich die Plattheiten der politischen Lyrik zu gönnen, ist zutiefst emotional aber frei von pathetischen Introvertismen.

Übersetzt von Beatrice Faßbender liegt das „Ministerium“ nun in einer deutsch-englischen Ausgabe vor. Ein Streifzug durch die 18-Millionen-Metropole, durch die Slums ebenso wie durch die Gated Communities, durch die dreckige Realität ebenso wie durch die selbstverlogene Scheinwelt der westlichen Touristen, für die das Alltagselend eine Runde Action zur Ablenkung von der eigenen Bedeutungslosigkeit darstellt. Den Terror von 9/11 stellt Tyrewala so zynisch wie nüchtern dem immer gegenwärtigen Ausbeutungsterror der kapitalistischen Schreckensherrschaft über die „3. Welt“ entgegen. Verlorene Gestalten geben einander die Klinke in die Hand, ohne einander je wirklich zu begegnen. Tyrewala zeichnet ein hoffnungsloses Gegenwartsportrait, in dem jeder ein Raubtier ist und auf irgendeine Weise zugleich auch ein Opfer. Jeder beutet jeden aus und jeder auch sich selbst. Man tötet um zu überleben oder um sich zu bereichern oder um irgendwelche Götter zu verteidigen, deren schallendes Lachen die Fahrstuhlmusik ist oder die Hintergrundberieselung im Supermarkt.

Diese Stadt
Diese Stadt
Was hat dieser verkehrsverstopfte Störfall an der Küste nur
Dass Millionen seinen Geruch nach ungewaschener Möse
An getrockneten Bombay-Duck-Anhängern schnüffeln wollen
Die sich die Leute um die Handgelenke schlingen

Die DNA einer Gattung entwirrt sich mit penetrantem Fischgestank
Bürgerliche Deppen werden high davon und stellen Visumsanträge

Was ist erdrückender? Die repressive Politik oder die Diktatur der kleinkarierten auf der einen Seite, die ihre Traditionen verteidigen und derer von der anderen Seite, die sie romantisieren? Was ist dreckiger: das ungewaschene Geschäft auf den Straßen mit Wasser, „von dem sich sogar Tote noch was einfangen“ oder das dreckige Geschäft, das mit Zinsen zu tun hat? Alles fließt beißend ineinander, unversöhnlich, ausweglos.

Schade, dass so wenige Leser Lyrik lesen. Denn ihnen entgeht hier was. Eines dieser Bücher, das schlaflose Nächte bereitet.

Altaf Tyrewala
Das Ministerium der verletzten Gefühle
Übersetzung:
Beatrice Faßbender
Berenberg
2013 · 100 Seiten · 19,00 Euro
ISBN:
978-3-937834-67-2

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