Die Chuzpe, „Ich“ zu sagen.
Confessional Poetry, da war doch was…richtig, unter dieser Rubrizierung fasste die Literaturkritik eine Generation von anglomerikanischen Dichterinnen und Dichtern nach dem 2. Weltkrieg zusammen. Kennzeichen ihrer Poetik war, dass die klare Trennung zwischen lyrischem und autobiographischem Ich weitgehend aufgehoben wurde. Sie verwandelte sich in eine Membran und wurde damit auch durchlässiger für Themen, die bis dahin eher tabuisiert worden waren. Vorreiter war Robert Lowell, der mit seinem programmatischen Gedichtband „Life Studies“ großen Einfluss auf namhafte Lyriker wie Sylvia Plath, John Berryman, Anne Sexton, Allen Ginsberg und W.D. Snodgrass hatte. In diesem Gedichtband thematisierte Lowell unter anderem seine diversen Aufenthalte in Nervenkliniken, seine Depressionen und manischen Zustände – und das ohne aufwendige metaphorische Verschlüsselung oder andere rhetorische Codierung des lyrischen Ichs. Was nicht heißen soll, dass diese Gedichte banal-prosaische Schilderungen eigener seelischer Befindlichkeiten sind, im Gegenteil: Sie funkeln vor Poesie, betreiben aber keinen Aufwand mehr für die Maskerade der poetischen Perspektive. Der Lowell'sche Gedichtband wurde von einer Dichterin wie Sylvia Plath seinerzeit als „Befreiung“ empfunden, weil er der zeitgenössischen Lyrik neue Territorien erschloss. Die dichterischen Geländegewinne nutzten Plath, Sexton, Berryman und Ginsberg, um Themen wie eigene Sexualität, Krankheiten, Süchte, Depressionen, Selbstmordgedanken oder auch mal außereheliche Affären in bis dato unerhörte Gedichte zu gießen. Das erotische Freibeutertum in Lyrik und Leben einer Anne Sexton beispielsweise sorgte in jener Zeit für literarische Skandale. Das Gedicht als Geständnis – man kann indes trefflich darüber streiten, ob das wirklich der inhaltliche Kern einer Bewegung war.
Aber was hat das mit dem eigentlichen Gegenstand dieser Rezension, mit Andre Rudolphs neuem Gedichtband zu tun? In einem sehr poetisch gefassten Nachwort zu diesem Band notiert Rudolph: „heute ist mir bei der lektüre von anne sexton zum ersten mal aufgefallen, dass ich seit anderthalb jahren confessional poetry schreibe, mittlere ergebnisse bislang, dennoch habe ich das gefühl, ich kann dieses genre nochmal ein kleines stück vorwärtstreiben, auf seine grenzen hin; oder auch nicht.“ Eine tagebuchartige Notiz, die poetologisches Gewicht durch die Tatsache gewinnt, das Andre Rudolph seinen neuen Gedichtband gleich mit „confessional poetry“ betitelt hat. Zumal er in seinem Nachwort weiter konstatiert: „was mir immer wieder bauchschmerzen bereitet, ist der ästhetizistische konsens meiner generation. soll es das schon gewesen sein? was ist mit den drängenden notzuständen der seele, terrorisiert vom gedicht?“ Nun, angesichts solcher Sätze und des programmatischen Titels erwartet man als Leser geradezu manifest-artige Gedichte, die gleichsam ein Revival der Confessional Poetry einläuten könnten. Doch man sieht sich auf das Angenehmste enttäuscht, denn wer will schon wirklich einen Band mit programmatischer Lyrik? Stattdessen erfreuen den Leser gleich im ersten Kapitel „das wahre troja liegt innen“ vorzügliche Gedichte wie etwa
destruktive interferenz
dass wir relativ komplexe wesen sind
siehst du zum beispiel am morgen
wenn du über eine rolltreppe läufst,
die steht, dein körper sich aber
noch an die fahrenden stufen erinnert,
so dass du unmerklich schwankst...
Diese Momentaufnahme einer Irritation beschreibt symptomatisch die störenden Interferenzen zwischen Kopf und Körper. Der Kopf nimmt eine Bewegung an, die der Körper nicht spürt. In der Folge des Gedichts wird eine Zugfahrt geschildert, auf der ein Mitreisender vergeblich versucht, die Folienhülle einer CD mit dem Titel „healing harmony“ aufzutrennen. Letztendlich wirkt sich das Dahingleiten per Bahn aber tatsächlich harmonisierend auf die Wahrnehmung des Ichs aus:
nebenbei schreibe ich jetzt übrigens,
in der bahn, an einem aufsatz
über die nebenwirkungen des
enzyms invertase, das unsere augen
steuert und alles, was wir sehen,
in feinen fruchtzucker ver-
wandelt, meine jüngsten erfolge:
endlich habe ich der zeit eine un-
befristete anstellung verschaffen
können, in meiner firma. sie arbeitet
sich gerade ein. ich selbst mache
eigentlich die meiste zeit gar nichts
und auch das fällt mir schwer.
eben hat der zug seinen zielbahnhof
erreicht.
Zeit in unbefristeter Anstellung – selten hat man Langeweile so treffend beschrieben gesehen. Wie überhaupt die Bilder Andre Rudolphs durchaus einem logischen Stream folgen. Genaueres Hinsehen lohnt sich dabei immer. Denn wer die Gedichte flüchtig liest, mag zu der Ansicht kommen, bei der Verknüpfung heterogener Bildwelten und disparater Sprachen sei der Meilenstein schon mit Ron Winklers Gedichtband „Frenetische Stille“ gesetzt worden und an dessen Experimentierfreude reiche diese Band nicht heran. Das will er übrigens auch gar nicht. Man schaue sich einmal das Gedicht „on the roof“ an. Das Setting ist schnell klar: Zwei Freunde sitzen frühmorgens auf einem beleuchteten Dach bei einem Gutenachtbier und lauschen einer Amsel, die in dieser Herrgottsfrühe „klackerte mit ihren pfennigabsätzen“. Oh Gott, mag sich da mancher denken, einen konventionelleren, ja, ausgelutschteren lyrischen Topos als eine Amsel hat er wohl nicht finden können. Andre Rudolph ist sich dieser Klischeenähe durchaus bewusst, denn im Gedicht heißt es weiter:
gedichte über amseln haben ja
den vorteil, dass sie schwarz sind und
von den rändern her singen,
das problem bei diesen vögeln ist nur,
dass sie es einem nicht leicht machen
das thema zu wechseln, wenn sie
einmal aufgetaucht sind;
Ihm gelingt es allerdings ganz locker, von der Amsel abzulenken hin zu den zwei seltsamen Vögeln, die da auf dem Dach sitzen und sich an die vergangene Nacht erinnern, die vergebene Liebesmüh, „eine lady aufzutun“. Schließlich lassen die Freunde aber die sentimentale Nachtrevue sausen „man muss nicht immer/alles ausbabeln, nicht wahr, bis zum großen/finale...// genau, lass uns die amsel bezahlen und gehen.“ Zum Schluss zwitschert die Amsel also doch noch einmal dazwischen. Ist das nicht ein bisschen viel lyrischer Schmelz, kann man sich fragen. Durchaus, aber mit einer Lässigkeit hingeworfen, die bestechend ist. Erstaunlich an diesen bemerkenswert schönen Gedichten ist ohnehin, mit welcher Chuzpe sie wieder „Ich“ sagen und „Du“, dass sie locker in Kauf nehmen, vom akademischen Feuilleton vielleicht mit Naserümpfen bedacht zu werden. Eine Risikobereitschaft, die sie tatsächlich mit „confessional poetry“ verbindet. Tabus allerdings brechen diese Gedichte nicht. Der Zyklus „die spinnen, die liebe, der tod“ etwa verknüpft virtuos Familienbande und ein Fußballspiel zu einem poetisch dicht verwobenen Netz, ähnlich der Zyklus „in der nordstraße“, der aber eher aus autobiographischen Erinnerungen besteht und mit dem eindrucksvollen Bild beginnt „einen von oben bis unten mit blindenschrift beschrieben hund/habe ich liegen sehn...“ Unerhörte Intimitäten und Geständnisse sucht man vergebens. Ist aber auch gut so. Was also, um ein Fazit zu ziehen, bietet dieser Band? Kraftvolle und zugleich feinnervige Gedichte mit Bildern, die in Kopf und Herz des Lesers haften bleiben. Treibt er, wie sich der Autor erhoffte, das Genre der confessional poetry voran, gar an neue Grenzen? Nein, das schafft er wiederum nicht.
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