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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Poet Nr. 15

Das Literaturmagazin des Poetenladens
Hamburg

Bei einem guten Roman ärgert man sich ja gelegentlich, wenn das Ende näher rückt, weil man genau weiß, dass ein zweites Lesen nie so schön sein kann, wie das erste. Bei der Lyrik und ihrer Stiefschwester, der Kurzprosa, ist das nicht so: die zeichnen sich im gelungenen Fall durch einen positiven Grenznutzen für Mehrfachlesen aus, der erste Blick ist nicht selten täuschend, verwirrend, enttäuschend, erst im mehrfachen Nachspüren blühen viele zunächst unscheinbare Zeilen auf - ich nehme als ein fast beliebig gewähltes Beispiel ein Stück von Elisabeth Bishop Gedicht Five Flights Up (aus „Geography III“): „Still dark. // The unknown bird sits on its usual branch.“– Zeilen, die mit jedem weiteren Lesen/Nachsinnen gewinnen und nach etwas Übung und im Idealfall das ganze Gedicht, eine Frühmorgenstimmung, eine ganz bestimmte Fremdheit evozieren.

Der halbjährlich in Leipzig erscheinende Poet, inzwischen bei Nummer 15 angelangt, setzt auf diesen Effekt und transzendiert ihn geradezu: er ist als gedruckte Zeitschrift das natürliche Objekt für transmediale Studien, denn vieles aus der Zeitschrift ist vor oder nach dem Druck auf poetenladen.de erschienen, wo Andreas Heidtmann mit seinem kleinen Team in sächsischer Beharrlichkeit und Sorgfalt ein Portal entwickelt, das das literatursatte Berlin nur anstaunen kann. Man hat als regelmäßiger Leser des Poetenladens also das Vergnügen, immer wieder in der Zeitschrift, die mit ihren 230 Seiten etwas pausbäckig in der Hand liegt, Texte aus der flüchtigeren Lektüre im Internet wiederzuerkennen, dieses Mal ohne elektrisches Bildschirmflackern und mit der Weihe des Drucks.

Das hat große Reize. Statt der früher gepflegten Autorenskizzen hat der Poet mit Ausgabe 14 begonnen, bei nahezu allen Autoren eine Photographie und ganz brauchbare biographische Notizen beizulegen. Durch die elegante und luftige Setzung kann sich der Leser gut mit dem einzelnen Autor verbinden und von den Texten dadurch einen verorteten Eindruck mitnehmen, sehr viel besser zuzuordnen, als in den meisten anderen Zeitschriften, bei denen die Texte der verschiedenen Autoren eng aufeinanderfolgen und im Lesefluss die Tendenz entwickeln, ineinander zu verschwimmen.

Das aktuelle Heft beginnt mit Gedichten der israelischen Autorin Tal Nitzán, deren Namen mit der schrägen Argumentationen aus ihrer Dissertation verbunden ist, dass die fehlenden Vergewaltigungen von Palästinenserfrauen durch die israelische Armee Ausdruck des profunden Rassismus der Soldaten sei. Wie um diesem exotischen Ruf gerecht zu werden, stürzt sie sich mit hochgeschwungener Moralkeule über dem Mäntelchen des lyrischen Zynismus gleich im ersten Text auf den Leser:

Ein hellblaues Mäppchen

Ein hellblaues Mäppchen, ein süß oder fruchtig riechender Radiergummi
zwei extra spitze Bleistifte, genau wie du sie dir gewünscht hast,
vier schmale Hefte, die nicht zu schwer sind für den schmalen Rücken.
Alles Gute zum Schulanfang.
Alles Gute Behira, meine Kleine.

Und schiebt den Hintergrund, den in den Text zu integrieren ihr nicht gelang, als Erläuterung nach, dass das Palästinenser-Mädchen Behira am Tag vor ihrer Einschulung durch eine Rakete israelischer Streitkräfte getötet wurde. Mit dieser Trennung Gedicht + Erläuterungstext wird damit die Lyrik als Pathos-Maschine vor einem intellektuell vermittelten Kontext eingespannt. Ganz aus dem Lehrbuch für psychologische Kriegsführung flanscht sie eine Emotion an ein Wissen; als ob man ein ähnliches Moment der Trauer im Kern nicht für jeden im Krieg oder sonstwie auf vermeidbare Weise getöteten finden könnte – denn nicht nur um Mädchen, sogar um männliche Wesen ist es schade, auch um Erwachsene und, ja, sogar um Soldaten.

Nicht dass die folgenden (ausnahmslos in Deutschland lebenden) Autoren einer eigenen Diskussion nicht würdig wären, doch trotz der vielen hochlobenden Darstellungen der Qualität der deutschen Lyrikszene: die Einzel-Text-Rezeption findet nun mal in der Profi-Szene im wesentlichen diskursfrei statt (die Laien haben ihre Internet-Foren, in denen sie Diskussionen zumindest versuchen), sofern man die selten ins Detail gehenden kollegial-freundschaftlichen Buch-Besprechungen oder gar Laudationen außen vor lässt. Es sind einige Arbeiten im aktuellen Poet dabei, die eine Diskussion und Vertiefung verdient hätten – Monika Koncz Kollagen zum Jugoslawienkrieg etwa – die das in den Text holen, was Nitzán draußen lässt.

Dabei enthält der Poet, wie auch der Poetenladen etwas in dieser Richtung, er pflegt die Kunst des Gedichtkommentars, wenn auch eingeschränkt auf das eingespielte Paar Braun/Buselmeier, die im Rahmen des ‚gelben Akrobaten‘ Texte überwiegend zeitgenössischer Autoren mit ruhiger, abgeklärter Gelassenheit besprechen. Hier zeigt sich der Reiz des Internets: Ann Cottens von ihr nur mit Mühe in zivilisatorisch akzeptable Bahnen gelenkter Widerspruch zu Michael Brauns Interpretation ihres ‚Rosa Meinung‘ findet sich nur auf poetenladen.de, nicht in der Zeitschrift.

Dazu kommen im Poet traditionell Interviews mit Autoren, die einem Thema gewidmet sind, als Impressionen sind sie meist interessant, erreichen aber selten die Tiefe, aus der die Aufnahme in ein Buch gerechtfertigt wäre, denn ein Buch ist der Poet, wenn man vom Preis absieht, der ist angesichts der beeindruckenden Ausstattung sehr moderat – was mit der Förderung durch die Kulturstiftung Sachsen zusammenhängen dürfte.

Eine der Stärken des Poet ist die Kurzprosa, die Redaktion liegt hier bei Katharina Bendixen. Diesmal sind etwa Nora Wagener und Franziska Gerstenberg vertreten, ihre ‚Polaroids‘ waren für mich ein Highlight des Heftes (und sind nur dort zu lesen). Ansonsten ist der Poet nicht unbedingt die Heimat der Avantgarde, viele der Texte fügen sich relativ nahtlos in den Literaturbetrieb ein, entweder weil die Autoren schon etabliert sind, oder weil sie es gerne werden mögen. Dem widerspricht nicht, dass, ähnlich der Hildesheimer Bella Triste, immer mal wieder die jungen Damen des Literaturinstituts ihre Abnabelungstexte publizieren dürfen, in denen freudig gemordet oder, je nach Lebenslage, Schwänze abgeschnitten oder gefuckt werden, zum Gähnen provokativ und schockierend. Nun gut, es ist hier nur einer, und literarisches Talent verrät auch dieser.

Schließlich enthält der Poet typischerweise eine Reihe von Texten, die in einem inhaltlichen Zusammenhang stehen, diesmal ist es die Diaspora, Schreiber, die abseits der Metropolen ihrem Handwerk nachgehen. Ein kleiner Schwerpunkt im Schwerpunkt widmet sich der Entwicklung der Sorben, das sind eine Art Rätoromanen im Osten Deutschlands (erinnert wird an den berühmten Aufstand der sorbischen Bauern der Herrschaft Leuthen im Norden der Niederlausitz im Winter 1789), und wie es sich für eine gefährdete Minderheit ziemt, unterscheiden sie in höchst spitzfindiger Weise zwischen obersorbisch und niedersorbisch und bewegen die Frage, welcher von beiden Dialekten stärker vom Aussterben bedroht ist (niedersorbisch) - im Verfolg der Diskussion entstand der spekulative Verdacht bei mir, ob es nicht sein könnte, dass die Obersorben gar keine echten Sorben sind, sondern in diesem Dialekt zum Beispiel tschechische U-Boote ihr unsorbisches Wesen treiben. Das steht nicht im Text, dort werden Gedanken über die Sprache im Garten Eden (vermutlich wendisch, also niedersorbisch) referiert, aber als aufmerksamer Leser des etwas kurios zusammengebackenen Aufsatzes von Elke Erb denkt man natürlich weiter. Es geht ihr, schreibt sie, um kräftigende Sätze über Geschichte, Geschichte der Wenden, Vandalen, Ober-, Niedersorben und der Lausitz, halb ist es eine Buchbesprechung über das ‚Encheiridion Vandalicum‘ eines Bielefelder Gelehrten, halb ein Reflex auf die Qualität der Sprach- und Minderheitenförderung der Sorben durch das DDR-Regime, es bleiben aber noch drei, vier weitere Hälften übrig, ein katapultorischer Text (die schöne Wendung „Ich bewege mich hier nicht chronologisch.“ werde ich mir aneignen), bei dem mir vor allem bewusst wurde, wie oft ich beim Lesen den Kopf wende und kratze, aber das soll Literatur ja schließlich bewirken.  

Im Zusammenhang des Themas sind eine Vielzahl Autoren und Autorinnen aus der Gegend aufgenommen – Hochburg der Sorben und sorbophilen scheint Bautzen zu sein -, ein Unterfangen mit sicher nicht kleiner Wirkung, für das sich andere Zeitschriften meist zu schade sind - oder es fehlt ihnen an der Art von Liebe zu Überraschungen und den Kontakten, wie sie Heidtmann und sein Team auch mit dieser Ausgabe wieder aufbringen.

Andreas Heidtmann (Hg.)
Poet Nr. 15
Poetenladen
2013 · 232 Seiten · 9,80 Euro
ISBN:
978-3-940691-47-7

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