Allein zu Haus
„Das Haus meiner Kindheit war groß und leer“, so beginnt der autobiografische Roman von Andreas Maier über seine Kindheit in der Wetterau, der zweite Teil eines auf elf Bände angelegten Großwerks. Um große Erlebnisse oder Ereignisse geht es hier nicht, sondern um das innere Erleben eines Kindes bis in die ersten Schuljahre.
Die Lebenswelt des kleinen Jungen ist zunächst vor allem das Haus: die großen, leeren Flure, der Keller, in den ihn die Schwester manchmal hinablockt und dann das Licht ausmacht, um ihn zu erschrecken, das eigene Zimmer mit dem unaufhörlichen Rauschen des Flusses und den Ästen der Linden am Fenster, die Küche, in der sich die Familie sonntags zum mehr oder weniger gezwungenen Tischgebet versammelt, und später der Bastelkeller, in den sich das Kind vor den anderen Menschen zurückzieht. Weniger genau, eher andeutungsweise werden die Familienmitglieder geschildert, die beiden lebenskräftigeren Geschwister, die Mutter, der Vater, ein erfolgreicher Unternehmer, der seine Funktionstüchtigkeit einmal in der Woche mit einem schweren Migräneanfall bezahlt. Zu ihnen bleibt eine eigenartige Distanz, während das Kind zu dem Haus eine sehr enge, fast sinnliche Beziehung hat. Das ganze Umfeld wird mit einer Mischung aus Naivität und sachlicher Genauigkeit beschrieben, die den Leser in die Innenwelt des Kindes hineinzieht; man erlebt alles gespannt mit, obwohl gar nicht viel passiert.
Der kleine Junge, der nach den jüngsten Forschungen zweifellos als HSP gelten würde (die Verhaltensweisen als autistisch zu verstehen, wie in einer Rezension geschehen, lässt einige wesentliche Punkte außer Acht), wird von der Mutter mit Besorgnis, vom Vater mit Missmut betrachtet und beim Arzt vorgestellt, weil er lange nicht sprechen will. Auch sonst ist er ein ungewöhnliches Kind, lärmt nicht herum, hält gern Ordnung, sitzt am liebsten still im Bastelkeller oder fährt alleine mit dem Fahrrad und will nicht mit seinen Altersgenossen spielen. Vom Kindergarten ist er „schockiert“ wegen des dort herrschenden Wirrwarrs und weil er die sozialen Regeln der Gleichaltrigen nicht versteht; nach einem Versuch darf er wieder zu Hause in seinem „wiedergefundenen Paradies“ bleiben. In der Schulzeit ist dies nicht mehr möglich und so entwickelt sich bei ihm morgens, sobald der Wecker geklingelt hat, ein Kloß im Hals, der allmählich so groß wird „wie die ganze Welt“ und ihm manchmal den Schulbesuch unmöglich macht. Wenn er das Glück hat, zu Hause bleiben zu dürfen und sogar einmal im Haus alleine zu sein, erfasst ihn Euphorie, denn: „Nun konnte nichts mehr passieren, es war unmöglich und ausgeschlossen … Es war eine Distanz zwischen mir und allen anderen, und sie würde gewahrt bleiben für mindestens eine Dreiviertelstunde … Ich im Haus und alle anderen draußen. Dieser Zustand erschien mir als das Notwendigste auf der Welt.“
Diese Schilderung der kindlichen Innenwelt hat mich sehr angesprochen und ich habe vieles wiedererkannt, von der Angst vor dem Tischgebet bis zum Selbstmordwunsch nach dem Kindergartenversuch und der Euphorie, allein im Haus zu sein. In dem Buch werden sich viele Menschen wiedererkennen, die seit der Kindheit das Gefühl haben, einige Sinnesorgane zu viel zu besitzen und sich unter anderen Leuten schwerzutun; wobei der kleine Junge bzw. der Autor in der glücklichen Lage ist, dass die Eltern ihm recht viel Freiraum geben und keine rigorosen Maßnahmen ergreifen, um seine Besonderheit zu bekämpfen. Beim Lesen erzeugt das Buch ein Gefühl der Geborgenheit ganz ähnlich dem, das ich in der Erinnerung an die eigene Kindheit habe; eine Innenwelt wie ein Schneckenhaus, in das man sich in einer unverständlichen und allzu tauglichkeitsorientierten Welt zurückziehen kann.
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