Im Dickicht der Zeit
Es gibt Dinge, die wird man nicht los. Wie „Panzerdivision“, Anne Webers Benutzerkennwort in der Pariser Nationalbibliothek, das sie vor vielen Jahren wählte und das nun, so wird ihr mitgeteilt, nicht mehr geändert werden kann. Auch wenn sie mit 18 nach Frankreich auswanderte – ihr „Deutschtum“ wird für immer an ihr kleben bleiben. Wie die eigene Vergangenheit.
In ihrem neuen Buch mit dem zweideutigen Titel „Ahnen“ begibt sich die 1964 geborene Autorin und Übersetzerin auf Spurensuche in der eigenen Familiengeschichte. Ihrem Urgroßvater, einem exzentrischen Pfarrer und Philosophen, der Freundschaften mit Martin Buber und Walter Benjamin pflegte, gilt ihr Hauptaugenmerk. Mehr noch als von der konkreten Person Florens Christian Rang, den sie im Buch „Sanderling“ nennt, lässt sie sich jedoch von Assoziationen und Ahnungen leiten, die sich ihr während des Schreibprozesses eröffnen. „Nicht nur von Menschen und Ereignissen, von Bewegungen der Gedanken und des Gemüts, sondern auch vom Dickicht der Zeit soll dieses Buch erzählen“, schreibt sie. Damit reiht sie ihr Werk in den relativ neuen Trend einer Erkundungsliteratur ein, die weniger daran interessiert ist, eine angeblich authentische Vergangenheit zu rekonstruieren, sondern vielmehr an der eigenen, vorsichtig tastenden Annäherung an diese. Per Leos „Flut und Boden“ oder Philip Meinholds „Erben der Erinnerung“ wären hier zu nennen – auch diese Bücher hätte man gut und gerne der von Weber erfundenen Gattungsbezeichnung „Zeitreisetagebuch“ zuordnen können.
Eine starke Sogwirkung geht von diesen einwandfrei recherchierten, behutsam vorwärts tastenden Essay-Romanen aus – vielleicht weil hier jeweils ein Mensch ein bewundernswertes Ausmaß an Zeit und Energie in eine persönliche Suchbewegung investiert, die im Prinzip jeder in seiner eigenen Familie ähnlich nachvollziehen könnte.
Sanderling wird 1864 in einen Beamtenhaushalt hineingeboren und geht als junger Jurist nach Poznań (Posen), das damals zu Preußen gehörte. War Sanderling Teil des preußischen „Germanisierungsprogramms“? Wird sich die Autorin später fragen. Seine Aufzeichnungen liefern ihr viele Antworten, aber nicht unbedingt auf die Fragen, die sich ihr aus dem Abstand von 150 Jahren aufdrängen. Immer wieder stellt sich ihr die Zeit in den Weg, vor allem die große Zäsur der Nazi-Herrschaft, des Holocaust, des Zweiten Weltkriegs. Allzu leicht sei es, alles, was vorher geschah, im Schatten dieses „Riesengebirges“ zu sehen, als Vorbote dessen zu (miss)deuten.
Sanderling beginnt, Theologie zu studieren und wird tätig für die Innere Mission. In seiner nie veröffentlichten, nur fragmentarisch erhaltenen Schrift „Abrechnung mit Gott“ gibt er sich als leidenschaftlicher, gegen sich selbst und andere oft unbarmherziger Mann zu erkennen. Wieder muss Weber sich bremsen, das darin ausgestellte Pathos aus heutigem Blickwinkel als lächerlich und größenwahnsinnig abzutun. Stets bleibt Weber misstrauisch ihren eigenen Mutmaßungen gegenüber; jede zweite Feststellung scheint die vorhergehende zu relativieren.
Unser Verlangen nach stringenten Erzählungen sucht unbewusst nach Kontinuitäten – und genau darum klopft Weber ihr Material ganz bewusst nach Brüchen in der (Familien-)Geschichte ab. Jeden Zweifel, jedes Unbehagen, die sich beim Lesen einstellen mögen, hat die Autorin bereits aufgegriffen und weitergedacht. Das ist lobenswert, nimmt allerdings ihrer Leserschaft zugleich ein ganzes Stück eigene Denkleistung ab. Oder vielleicht ist es vor allem die Angst der Autorin, sich angreifbar zu machen: „Jeder dieser affirmativen Sätze kann falsch sein, das ist selbstverständlich und soll deshalb nur einmal hier erwähnt werden“, fühlt sie sich verpflichtet anzumerken.
Ebenso verpflichtet fühlt sie sich, die Gedanken und Regungen ihres Urgroßvaters nicht nur nachzuvollziehen, sondern im tiefsten Innern nachzufühlen – keine leichte Aufgabe, wenn sie lesen muss, wie Sanderling beim Besuch einer „Irren- und Idiotenanstalt“ den Assistenzarzt fragt: „Warum vergiften Sie diese Menschen nicht?“
Webers erster Impuls auch hier: In dieser Frage den gedanklichen Vorläufer der Ermordung behinderter und geisteskranker Menschen im Dritten Reich zu sehen. Der Satz verfolgt sie, scheint er doch eine direkte Brücke zu ihrem Großvater zu schlagen, zu dem sie nie Kontakt hatte, da er sie als uneheliches Kind nicht als seine Enkelin anerkannte. Er war ein „glühender Nazi“, erfährt sie nun, und spielte als Bibliotheksleiter in Bielefeld dem Sicherheitsdienst der SS in die Hände.
Doch auch hier macht Weber es sich nicht allzu leicht, einen roten Faden faschistischer Gesinnung durch die Generationen zu ziehen. Stattdessen kommt sie zurück zu Sanderling, sucht nach weiteren Indizien in dessen Biografie, und findet vor allem Widersprüche: Seine Kriegsbegeisterung, die zu Beginn des Ersten Weltkriegs aus seinen Aufzeichnungen über die Ursprünge des Karnevals spricht, teilt er mit vielen anderen Intellektuellen jener Zeit. Die Ernüchterung folgt rasch. Das in seinem Todesjahr (1924) veröffentlichte Werk „Deutsche Bauhütte“ macht noch einmal die Kehrtwende: Darin ruft er die Deutschen dazu auf, freiwillig beim Wiederaufbau der von ihnen im Krieg zerstörten Gebiete Frankreichs und Belgiens mitzuhelfen.
Die Wege, die Weber auf ihrer Erkundungsreise beschreitet, sind verschlungen, mäandernd, manchmal kaum passierbar. Seitenlang analysiert sie ihre Sprachscham angesichts des Wortes „Jude“, ihre Scheu, das Wort „Auschwitz“ auszusprechen. Immer wieder geht es um die „Bürde“, eine Deutsche zu sein, um das – wiederum schambehaftete – Sehnen hin zur Opferseite.
Begriffe in ihren soziokulturellen Kontext zu setzen, den emotionalen Gehalt symbolisch aufgeladener Worte mitzudenken, ist absolut richtig und notwendig. Doch hätten bloße Andeutungen gereicht, den LeserInnen eine Ahnung der Gewissenslast der Autorin zu vermitteln.
Das Mitdenken und penible Ausformulierung jeglicher Vorwürfe, die ihr von verschiedenen Seiten und aus verschiedenen Zeiten her gemacht werden könnten, wirkt letztendlich so, als hätte sich die Autorin schon beim Schreiben bestmöglich vor Anfeindungen schützen wollen. Sie mauert sich quasi selbst ein in einen analytischen Kokon. Und der Text, der eigentlich frei und ergebnisoffen an seine Materie hatte herangehen wollen, bekommt doch wieder etwas in sich Geschlossenes, nach allen Seiten hin Abgedichtetes und dadurch allzu Glattes.
Unweigerlich fragt man sich: Wieso manifestiert sich ein derart skrupulöses Sprachbewusstsein – wie es auch bei Leo und Meinhold schon augenfällig war – nur immer wieder im Abklopfen jedes Wortes und jeder Phrase auf ihre „Political Correctness“ hin? Und nicht auch einmal auf deren poetischen Gehalt, deren Rhythmik und Musikalität, die möglicherweise viel tiefer noch in unbewusste Schichten des Familiengedächtnisses vorzudringen vermögen?
Patrick Modiano hat es mit seinem Flanieren durch ein Paris vorgemacht, in dem sich die Zeitebenen foliengleich überlagern. Nancy Hünger mit ihren verdichteten Textsplittern, die auf intensivste Weise die Leerstellen im Familiengedächtnis einkreisen. Der Großteil der Ahnenforschung in der deutschen Prosa jedoch beschränkt sich weiterhin auf nüchterne, intellektuell wie politisch unangreifbare Abhandlungen.
Am flüssigsten lesen sich jene Passagen, in denen Weber in Polen Sanderlings Wohn- und Wirkstätten aufsucht. In der Begegnung mit konkreten Orten und Menschen zeigt sich die Autorin/Erzählerin unerwartet offen und unverstellt. Zusammen mit einem Strom Einheimischer begibt sie sich am Totengedenktag auf eine Prozession, der kollektiven Ahnen zu gedenken. Und aus allem Angelesenen, jenseits aller Ängste vor äußeren Zuschreibungen, scheint plötzlich ein eigenes, direkt erfahrenes Geschichtsverständnis herauf.
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